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Tritt in den Hintern

Ein Huhn muss in den Topf. Claire Devers verfilmt in „Die Diebin von St. Lubin“ einen Fall der „neuen Armut“ in Frankreich. Mit atemberaubender Realitätsnähe und jenseits aller Dogma-Koketterie

von CLAUS LÖSER

Der Nudeln überdrüssig, die sie tagein, tagaus ihren beiden Töchtern vorsetzt, überkommt Françoise Barnier unvermittelt ein Anfall von Kleptomanie. Sie, die niemals vorher einen Diebstahl begangen hat, kennt angesichts der überquellenden Kühltruhen im Supermarkt plötzlich keine Hemmungen mehr. Fast panisch stopft sie Steaks, Geflügel, Würste in ihre Jacke – viel mehr, als sie und ihre Kinder essen könnten. Für die Angestellten des Geschäfts, in dem Françoise schließlich dingfest gemacht wird, stellt der Vorfall Routine dar; sie übergeben sie der Justiz.

Für die zur Delinquentin abgesunkene, bislang unbescholtene Bürgerin wandelt sich durch den Fehlgriff alles. Paradoxerweise wird die eigentliche Katastrophe erst durch ihren Freispruch ausgelöst. Nachdem eine tolerante Richterin die Notlage der Angeklagten geltend gemacht hat, denunziert ein profilierungsbedürftiger Journalist das Urteil in Le Monde als Aufforderung zum massenhaften „Mundraub“. Die linke Richterin gerät ins Sperrfeuer ihrer konservativen Kollegen, Boulevardpresse und Privatfernsehen rücken die Geschichte ins Zentrum, Die Front National versucht, den Fall für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. In der eher zarten Françoise Barnier erwachsen ungeahnte Energien, sich der Eigendynamik des Geschehens zu widersetzen. Unverdrossen behauptet sie sich gegen den Mahlstrom der um sie kreisenden Machtspiele.

Bereits 1999 gedreht, erweist sich „Die Diebin von St. Lubin“ als überaus aktuell. Die viel beschworene Politikverdrossenheit der in die „neue Armut“ Abgerutschten erfährt in diesem Film eine unpolemische Darstellung. Gleich zu Beginn erleben wir einen Wahlsonntag. Françoise wird von einer Freundin gefragt, wen sie denn gewählt habe. Wütend antwortet sie: „Wen wohl?!“ Die Kommunisten jedenfalls nicht, denn die verdienen „einen Tritt in den Hintern“.

Später, als die Kampagnen für und wider ihren Freispruch eskalieren, begibt sie sich selbst in ein Büro der Front National. Ihre Hoffnung nach ideeller Unterstützung kehrt sich jedoch sehr schnell in Abscheu vor dem Zynismus dieser Partei um. Der Provinzfunktionär der Rechtspopulisten legt ihr allzu plumpe Kausalketten zwischen dem Einwandererzustrom und ihrem eigenen Elend dar, aktiviert damit instinktive Abwehrmechanismen in Françoise.

Nein, diese Frau wird keineswegs als eine von Sozialneid zerfressene Versagerin gezeichnet. Ihr sozialer Abstieg fußt vielmehr auf anachronistischen Moralvorstellungen. Obwohl sie günstiger abschneiden würde, widerstrebt es ihr zutiefst, von Sozialhilfe zu leben. Auch jede Form von Kreditaufnahme oder die übliche Verschleppung von Mietzahlungen sind für sie tabu. Obwohl sie bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit arbeitet und sich persönlich nicht den geringsten Luxus leistet, gelingt es ihr einfach nicht, einen akzeptablen Alltag für sich und ihre Kinder zu organisieren. Gleich vielen anderen auch fällt Françoise Barnier durch die Raster eines sich schleichend vollziehenden Paradigmenwechsels.

Wie dicht Regisseurin Claire Devers mit ihrer Sozialanalyse an der Realität bleibt, zeigt sich nicht nur im Umstand der fast identischen Umsetzung eines authentischen Falls. Die Front National reagierte auf ihre Darstellung im Film wie der sprichwörtliche „getroffene Hund“: Durch eine Unterlassungsklage von FN wurde die Filmemacherin genötigt, sämtliche direkten Hinweise auf Le Pens Partei zu eliminieren. Die juristisch erzwungenen Eingriffe sind von ihr absichtlich mit grober Schere vorgenommen worden.

„Die Diebin von St. Lubin“ lebt von der atemberaubenden Realitätsnähe, die sich jenseits aller Sozialromantik und Dogma-Koketterie bewegt. Wenn hierzulande ein solcher Gestus des Filmemachens auch fast vollständig in Vergessenheit geraten scheint, so leben die Traditionen Fassbinders doch wenigstens im benachbarten Frankreich weiter.

„Die Diebin von Saint Lubin“. Regie: Claire Devers. Mit Dominique Blanc, u. a., Frankreich 1999, 85 Min.

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