Triggerwarnungen auf Netflix: Lieber gespoilert als retraumatisiert
Triggerwarnungen spoilern nicht. Sie warnen eher vor dem, was an Nebenwirkungen bei einem Medienprodukt vorkommen kann, meint unsere Autorin.
N eulich erzählte ein Freund, er sei gespoilert worden. Er hatte sich einen Film auf Netflix angeschaut, doch noch bevor der losging, blendete der Streaminganbieter eine Warnung ein: Der Film thematisiere Gewalt, Vergewaltigung, Mord. Der Freund empörte sich. So habe er ja schon gewusst, was in dem Film passieren würde.
Mit seiner kritischen Haltung ist er nicht allein: So kommentierte Jürn Kruse bei Übermedien, dass Netflix neben Gewalt, Suizid und Essstörung auch vor Alkoholmissbrauch und Gewalt an Kinder warnen müsste, denn das seien ja ebenfalls sensible Inhalte. Allerdings bestünde dann die Gefahr, dass jede einzelne Warnung untergehen könnte – und dass die lange Liste von Inhaltswarnungen einem Beipackzettel gleichen würde. Und der Psychologe Thomas Weber erklärte der taz im Interview, der Begriff Triggerwarnung selbst könne bei Betroffenen Ängste auslösen, und dass Außenstehende die Triggerpunkte der anderen definierten, sei übergriffig und anmaßend. Er plädiert für eine etwas nüchterner formulierte „Inhaltsangabe“.
Fair enough, das ist nachvollziehbar, da geh ich mit. Brauchen tun wir sie dennoch, in irgendeiner Form. Triggerwarnungen sind für mich vergleichbar mit Hinweisen auf Lebensmitteln für Allergiker:innen. Wer selbst nicht allergisch ist, hält solche Kennzeichnungen vielleicht für überflüssig. Aber Betroffenen können sie das Leben retten. Fehlt eine Inhaltswarnung bei einem Film oder Social Media Post, endet dies zwar in den allermeisten Fällen nicht direkt tödlich. Aber beispielsweise können von Gewalt traumatisierte Betroffene einen Nervenzusammenbruch erleiden oder in einen Schockzustand geraten, wenn sie ohne Vorwarnung mit der gleichen Art von Gewalt konfrontiert werden, die sie selbst erlitten haben.
Streaminganbieter sollten der Idee des von Kruse befürchteten Beipackzettels also ruhig nachgehen und schön präzise alle sensiblen Inhalte auflisten. So wissen Traumatisierte, was sie erwartet. Sie können noch mal innehalten, in sich hineinhorchen, auf ihr Bauchgefühl hören, sich fragen, will ich mich dem aussetzen? Und je länger die Liste, desto mehr Betroffene werden angesprochen: Denn nicht nur Gewalt, sondern auch Alkoholmissbrauch, Spielsucht oder Depression können bei Leuten, die ebendiese Situationen erlebt haben, etwas auslösen.
Wirklich unangenehm wird's im Kino
Bei manchen Streaming-Anbietern steht so eine Inhaltsangabe wie von Weber vorgeschlagen nur neben der Storybeschreibung. Eine andere Alternative zum offensiven Einblenden wäre ein Triggerwarnungs-Button, den Betroffene anklicken könnten. So würden Leute wie mein Freund auch nicht mehr „gespoilert“. Ich halte diese weniger sichtbaren Varianten allerdings für keine guten Lösungen. Erstens vergessen auch mal Traumatisierte, dass sie etwas Schlimmes erlebt haben. Zweitens entwickeln wir als Gesellschaft nur dann eine Sensibilität gegenüber traumatisierten Menschen, wenn wir im Alltag damit konfrontiert werden.
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Streaming zu Hause ist dabei noch das kleinere Übel. Wirklich unangenehm kann es für Betroffene in öffentlichen Räumen werden, zum Beispiel im Kino. Denn da kann eine traumatisierte Person nicht schnell einfach wegschalten.
Freund:innen und Familie können da eine Stütze sein und den Betroffenen aus ihrem Umfeld Bescheid sagen, wenn sie etwa einen Film gesehen haben, in dem etwas gezeigt wird, das Betroffene retraumatisieren könnte. Es ist nicht immer einfach, in der Freizeit auch noch die Sensibilitätsfühler gespitzt zu halten. Aber das bisschen Stress ist nicht vergleichbar mit dem, was Betroffene täglich an Triggern durchleben müssen.
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