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Tribunal zur NSU-Mordserie„Die Opfer sind keine Statisten“

Das Leid und die Erfahrungen der Hinterbliebenen spielen in der Justiz nur eine geringe Rolle. Deshalb haben sie nun in Köln ein eigenes Tribunal organisiert.

Persönliches Leid hat im NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München keinen Platz Foto: Inga Kjer
Konrad Litschko
Interview von Konrad Litschko

taz: Herr Arslan, Sie sind Teil des NSU-Tribunals, das ab Donnerstag in Köln eine gesellschaftliche Anklage von Rassismus vorbringen will. Warum braucht es diese Anklage?

Ibrahim Arslan: Weil es diese Anklage bisher nicht gibt. Es gibt den NSU-Prozess in München, es gibt die Untersuchungsausschüsse, aber bei allen geht es nicht um das tatsächliche Problem: Dass neun Menschen sterben mussten, weil es Rassisten in dieser Gesellschaft so wollten.

In München wird seit vier Jahren gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte verhandelt. In den Ländern laufen immer noch fünf Untersuchungsausschüsse. Das alles hat nichts gebracht?

Was wird denn da aufklärt? Es ist doch ziemlich offensichtlich, dass der NSU mehr Mittäter hatte als das Trio. Wissen wir, trotz alledem, wer sie waren? Nein. Und sprechen wir darüber, welche Verantwortung der Staat für diese grauenhaften Taten trägt? Nein. Was in München und den Ausschüssen geschieht, ist oft nur Theater. Und wir sind ein Teil davon, indem wir zuschauen und darüber reden, aber sonst nichts daran ändern. Das ist der Grund, warum es jetzt das Tribunal gibt.

Das Verfassungsschutzversagen und die Ermittlungsfehler wurden in den Ausschüssen sehr wohl breit thematisiert.

Ja, aber hier geht es um mehr als um Fehler. Diese Morde sind geschehen, weil es in diesem Land einen Rassismus gibt, der alltäglich ist. Es haben ja alle von Döner-Morden gesprochen und tatsächlich geglaubt, dass die Opfer Kriminelle waren, obwohl sich dafür nichts finden ließ. Bloß weil sie eben Türken waren.

Im Interview: Ibrahim Arslan

Der Mann: 32 Jahre, Angestellter im Ordnungsamt. 1992 überlebte er einen rassistischen Brandanschlag auf das Haus seiner Familie in Mölln.

Der Aktivist: In Schulen berichtet er über die Tatnacht und deren Folgen. Kommende Woche wird er in Berlin von der Bundesregierung als Botschafter für Demokratie und Toleranz ausgezeichnet.

Was will das NSU-Tribunal ändern?

Das Tribunal wird den Opfern erstmals eine Stimme geben. Es wird von den Betroffenen geleitet, zusammen mit solidarischen Menschen. Sie werden erzählen, was sie denken und was sie wirklich wollen. Das könnte in die Geschichte eingehen: Dass Opfer auf diese Art in eine aktive Rolle treten und sich nicht mehr instrumentalisieren lassen. Ich bin stolz, dass ich dabei sein kann.

Die NSU-Opfer erhielten Entschädigungen, eine Ombudsfrau der Bundesregierung hilft ihnen bei bürokratischen Hindernissen. Das ist zu wenig?

Eine einzige Frau, für all die Familien! Aber immerhin. Es geht aber gar nicht um Geld. Die Betroffenen haben andere Forderungen.

Fünf Tage Tribunal

Was: Am Mittwoch den 17. Mai beginnt abends am Schauspiel Köln das fünftägige NSU-Tribunal. Im Zentrum sollen die Opferangehörigen und ihre Forderungen stehen. Sie und die Teilnehmer wollen eine „Anklage von Rassismus“ formulieren. Dies sei im NSU-Komplex bisher eine „Leerstelle“, so die Organisatoren. Dabei seien die Morde ein „Kristallisationspunkt strukturellen Rassismus“.

Wie: In Workshops und Diskussionen soll über die NSU-Verbrechen und ihre Ursachen diskutiert werden. Daraus soll die Anklage entstehen, die der Öffentlichkeit übergeben wird. Diese müsse daraus „Konsequenzen ziehen“. Zum Abschluss soll am Sonntag mit einer „Parade“ in Köln demonstriert werden.

Warum: Der Nationalsozialistische Untergrund um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tötete in den Jahren 2000 bis 2007 neun migrantische Gewerbetreibende und eine Polizistin.

Welche?

Sie wollen eine lückenlose Aufklärung der Morde. Sie wollen, dass die Hintermänner des NSU bekannt werden, die Nazis, die dem Trio das Geld und die Waffen besorgt haben. Sie wollen, dass die Polizisten zur Verantwortung gezogen werden, die die Ermittlungen in die falsche Richtung gelenkt haben. Und es gibt noch eine zweite Tat: Wie diese Gesellschaft mit den Morden umgeht. Wie sie die Betroffenen behandelt, wie die Polizei sie befragt. Dass hier einiges schief lief, darüber reden wir auch nicht. Dabei ist das für mich die schlimmere Tat. Den Mord, den kannst du nicht ungeschehen machen. Aber wenn du die Opfer danach auch noch schlecht behandelst, macht das die Menschen endgültig kaputt.

Sie selbst sind Betroffener rassistischer Gewalt. 1992 warfen zwei Neonazis Brandsätze auf das Haus Ihrer Familie in Mölln. In den Flammen starben Ihre Schwester, Oma und Cousine. Sie selbst, damals sieben Jahre alt, überlebten. Was dachten Sie, als Sie 2011 das erste Mal vom NSU hörten?

Für mich fühlte sich der Moment an, als ob alles, was in Mölln passierte, sich noch einmal wiederholt. An dem Tag habe ich mein Vertrauen in den Staat komplett verloren, das ich versucht hatte, über die Jahre wieder aufzubauen. Ich bin deutscher Staatsangehöriger, hier geboren, hier aufgewachsen. Ich bin die vierte Generation meiner Familie in Deutschland, meine Kinder sind die fünfte. Da redet man nicht mehr von Integration, da ist man ein Baustein dieses Landes. In dem Moment aber war das alles zerstört. Ich habe den NSU-Opferfamilien sofort meine Hilfe angeboten. Weil wir das ja schon alles erlebt haben.

Wie wurde 1992 mit Ihrer Familie nach dem Anschlag umgegangen?

Wir sind ja mit den Möllnern aufgewachsen, unsere Nachbarn waren wie ein Teil unserer Familie. Aber nach dem Anschlag waren wir plötzlich der Schandfleck für ganz viele. Weil wir, auch nur dadurch, dass wir da waren, an den Rassismus in der Stadt erinnert haben. Auch heute, wenn wir unsere Gedenkveranstaltung in Mölln veranstalten, sind wir fast unerwünscht. Die Stadt wollte immer lieber ihr eigenes Gedenken machen, mit ihren Rednern und ihren Themen.

Sie haben 2013 dann Ihr eigenes Gedenken durchgeführt: die Möllner Rede im Exil.

Ja. Das muss man sich mal vorstellen, dass man heute noch darüber streiten muss, wer die Hoheit über das Gedenken hat! Die Opfer sind keine Statisten, sondern Hauptzeugen des Geschehenen. Es geht hier um unsere Geschichten. Es muss vorbei sein, dass wir auf solchen Veranstaltungen nur stumm danebensitzen, wenn andere über uns reden, und am Ende applaudieren. Wir lassen uns nicht mehr mundtot machen.

Sie haben mal gesagt, zu oft haben Sie sich bei solchen Gelegenheiten auf die Lippen gebissen. Das sei jetzt vorbei. Was hätten Sie damals sagen wollen?

Ich hätte sagen wollen: Leute, worüber redet ihr eigentlich? Was macht ihr hier mit uns, mit unserer Würde? Es gab einen Moment, da dachte ich, jetzt ist der Anschlag auf meine Familie endgültig vergessen. Da wurde auf der Gedenkveranstaltung plötzlich über Religionskonflikte gesprochen, zwischen Kirchen und Moscheen. Da haben wir tatsächlich das Mikrofon ergriffen und gesagt: Wisst ihr nicht mehr, was damals passiert ist? Unsere Familie wurde nicht aus religiösen Gründen umgebracht, sondern aus rassistischen.

Auch die NSU-Betroffenen haben den Umgang mit ihren Familien beklagt. Ihre getöteten Familienmitglieder wurden von der Polizei als Kriminelle verdächtigt. Ihre Vermutung, die Täter könnten Rechtsextreme sein, wurden nicht gehört. Was empfinden Sie, wenn sich solche Erfahrungen immer wiederholen?

Tja, warum wiederholt sich das? Wenn ich mich mit dieser Frage beschäftige, bekomme ich keine Antwort. Das Einzige, wie wir das durchbrechen können, ist, immer wieder über die Opferperspektive zu sprechen. Davon bin ich fest überzeugt. Wir müssen mit unseren Geschichten in die Öffentlichkeit gehen, in die Schulen, in die Medien. Erst so entsteht Sympathie. Und erst mit der Sympathie können irgendwann auch die Gewalttaten und Vorurteile aufhören.

Sie gehen als Zeitzeuge in Schulen, berichten von dem Anschlag in Mölln. Wie sind die Reaktionen?

Sehr positiv. Ich frage in den Schulen oft nach den NSU-Opfern. Enver Şimşek, Süleyman Taşköprü, Theodoros Boulgarides und die anderen. 99 Prozent der Schüler sagen dann: Kennen wir nicht. Aber wenn ich frage, kennt ihr Beate ­Zschäpe, gehen alle Finger hoch. Diesen Fokus müssen wir verändern. Wir müssen die Betroffenenperspektive mehr in den Vordergrund bringen, nicht immer nur auf die Täter schauen. Wenn wir nicht über Rassismus sprechen, hört er auch nicht auf. Die Schüler machen mir da aber Hoffnung.

Warum?

Fast alle Schüler sagen mir danach, wie beeindruckt sie von den Geschichten meiner Familie oder denen der NSU-Betroffenen sind, von unserer Stärke. Sie haben das Wort Opfer ja immer nur mit Schwäche verbunden. Und nun sehen sie da Leute, die gegen Rassismus kämpfen. Diese Reaktionen sind sehr, sehr wichtig, weil in den Schulen unsere nächste Generation sitzt. Diese Kinder werden später in der Politik arbeiten oder der Polizei. Und dann werden sie sich erinnern: Da gab es doch mal diese Leute, mit denen so schlimm umgegangen wurde, das machen wir anders.

Sie haben also Hoffnung, dass Rassismus in dieser Gesellschaft zu besiegen ist?

Ja doch, das habe ich.

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12 Kommentare

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  • 2G
    2422 (Profil gelöscht)

    @MOWGLI & @CHRIS TOPH: Im Interview gibt es keine Stelle, in der von Rache geschrieben wird noch dass alle Deutschen Rassisten seien. Das NSU-Tribunal behauptet nur, dass in den sogenannten Ermittlungspannen im Falle des NSU System steckt, das rassistischem Denken der Ermittler entspringt. Oder sind Ihre Beiträge etwa satirisch gemeint?

    • @2422 (Profil gelöscht):

      Hallo MichaelFrf, ich habe mich Mowglis Meinung angeschlossen, dass ein "Tribunal" von seiner Konnotation her eher weniger den Anspruch hat, Recht zu sprechen, als viel mehr ein "Urteil" im ureigenen Sinne hervorzubringen. Es geht um ein Aburteilen. Wo soll das enden? Dass Deutsche Tribunale in Bezug auf Anis Amri und gewisse salafistische Moscheen bilden?

      • @Chris Toph:

        ...Ihre konstruierte Psychospanne von der "Konnotation" eines "Urteils" über ein "Aburteilen" in ein frei-flottierendes "Ende" vermittelt ein verängstigtes oder zumindest 'besorgtes' Gefühl...warum eigentlich?

        Warum (und v.a. Wie) wollen Sie denn zukünftig notwendige Tribunale verhindern, die sich aus der komprommittierten, manipulativen und vertuschenden IST-Situation eines "RechtsStaates" heraus erst ergeben?

        Was befürchten Sie denn von einem "Deutschen Tribunal" zum Fall Amri? - ein weiteres Urteil über den Deutschen Rechtsstaat und seine Beteiligung (wie sie justamente publik geworden ist)?

         

        Schämen Sie sich, dass Sie Menschen vorschreiben wollen, wie sie ihre Erfahrungen mit Verlust, Gewalt, struktureller Kriminalisierung und institutionalisierter Vertuschung ver- und bearbeiten sollen! Damit sind Sie Teil des Problems gegen das sich dieses Tribunal "richtet"...

        • @blinde kuh:

          1. Wir sind uns ja einig darin, dass der deutsche Rechtsstaat nichts taugt. Gerade wenn es um politisch/weltanschauliche Gewalt geht, hinken die entsprechenden Stellen/Behörden so weit hinterher, dass man nun wirklich nicht an einen Zufall oder einzelne kleine Fehler glauben kann. Dennoch muss doch der Ansatz sein, die Justiz auf Vordermann zu bringen anstelle irgendwelche Nebenkriegsschauplätze wie etwa "Tribunale" zu eröffnen.

          2. Den Fall Anis Amri habe ich genannt, eben weil Unregelmäßigkeiten publik wurden und weil mir bei dem Gedanken, dass das Berliner LKA nicht nur nichts getan hat, sondern aktiv vertuschen wollte, schlickt der Kragen platzt. Sie haben mich also schlicht missverstanden (oder ich habe mich missverständlich ausgedrückt), wenn Sie glauben, dass ich etwas kleinreden möchte. Ganz im Gegenteil, ich will Aufklärung, nur eben in einem juristisch einwandfreien, transparenten Verfahren und nicht in einem Tribunal.

          • @Chris Toph:

            ..."irgendwelche Nebenkriegsschauplätze"?...wir sind uns keineswegs "einig"!

             

            Ich weiß zwar nicht, wie Ihr komperativ "müssender Ansatz"..."die Justiz auf Vordermann zu bringen" Ihrer Meinung nach konkretisiert ausgestaltet werden soll, erkenne aber wohl Ihre Unfähigkeit, das "Tribunal NSU-Komplex auflösen" als zivilgesellschaftlich organisierten Schritt in genau diese Richtung wahrzunehmen - das unterscheidet uns fundamental!

             

            Ein "juristisch einwandfreies, transparentes Verfahren" findet nun schon wie lange nicht statt?

            Wie lange gedenken Sie denn dem Ganzen noch mit pathetischer Ignoranz zu begegnen - oder was tun Sie wie lange schon konkret dagegen bzw. dafür?

            Aufklärung wird von Beginn an "juritisch einwandfrei" verhindert und insbesondere behördliche Beteiligung und Förderung "transparent" vertuscht - von welcher "Aufklärung" phantasieren Sie hier eigentlich?

             

            Das Tribunal hat Forensic Architecture mit genau dieser Aufklärung eines Teilaspektes staatlicher Verantwortung bei Tatausführung, manipulierter behördlicher Ermittlung und staatsräsonal-juristischer Ausblendung beauftragt und öffentlich zugänglich gemacht - wo ist Ihr Problem? Was können oder wollen Sie daran nicht anerkennen?

  • Ich verstehe den Frust und die Angst. Trotzdem möchte ich Ibrahim Arslan ins Gesicht brüllen. Auch wenn ich weiß, dass er davon nicht wach werden würde, sondern bloß noch wütender.

     

    Nein, wir brauchen keine Anklage, bei der die Emotion die Vernunft dominiert. Es sei denn, wir wollen zusätzliche Fronten bilden. Das „tatsächliche Problem“ ist nämlich, dass Schuld nicht angenommen werden kann. Auch, weil sie zu oft pauschaliert wird.

     

    Neun Menschen mussten sterben, weil es Rassisten in dieser Gesellschaft so wollten. Wenn man den Verstand ausschaltet und dem Gefühl Priorität einräumt, wird daraus rasch ein neuer Satz: Neun Menschen mussten sterben, weil die Gesellschaft rassistisch genug war, es zuzulassen. Und wenn man diesen Satz erst mal gedacht hat, ist es nicht weit bis an die Stelle, an der es heißt: Neun Menschen mussten sterben, weil alle Deutschen Rassisten sind.

     

    „Weg mit ihnen!“, ist dann ein naheliegender Gedanke. Mit „ihnen“ aber sind dann nicht die beiden Uwes (die schon weg sind) und ihre Beate (die bald weg sein wird) gemeint. Gemeint ist dann jede*n, der Schmidt, Schulz, Müller oder Meier heißt, nicht Kelek oder Aslan. Weil: Man kennt sie ja, die Deutschen. An ihren Namen beispielsweise.

     

    Alltagsrassismus ist es eben nicht nur, wenn viele Menschen an „Döner-Morde“ glauben, weil die Opfer Türken sind. Alltagsrassismus ist es auch, wenn viele Menschen an Sauerkraut-Mörder glauben, weil die Täter und ihre (Helfers-)Helfer Deutsche waren. Alltagsrassismus ist, wenn Ausreden frei Haus geliefert werden: „Das tun/erleiden doch alle!“

     

    Eine Staatsbürgerschaft macht weder Türken noch Deutsche zu Opfern oder Tätern. So lange diese „Tribunal“ Kunst ist, muss es diesen Grundsatz nicht beachten. Wenn es mehr sein will, Politik zum Beispiel oder Recht, sollte es mehr tun, als nur Stimmung zu machen. Dann müssten Perspektivwechsel her, denn Recht und Demokratie leben vom Unterschied der Standpunkte. Gibt es die nicht, droht eine Diktatur – und noch mehr Tote.

    • @mowgli:

      ...welches "wir" meinen Sie eigentlich, wenn Sie von "Vernunft" und "Schuld" pauschalisieren?

       

      Ihr Abwehrreflex zur Thematisierung von strukturellem und Alltagsrassismus als einer von "allen Deutschen" ist typisch emotionalisiert und weder sach- noch textgerecht.

      Ihr "staatsbürgerliches" Plädoyer versteigt sich in die "vernunft"smäßige Ausblendung des rassistischen Kerns des NSU-Komplexes, indem Sie Opfern und Tätern ihre 'Herkunft' und Selbstdefinition "grundsätzlich" absprechen - mit welchem "Recht" eigentlich?

       

      Der Satz "..das tatsächliche Problem: Dass neun Menschen sterben mussten, weil es Rassisten in dieser Gesellschaft so wollten." kann auch von Ihnen nicht "weitergedacht" werden, wenn Sie ihn nicht wenigstens anerkennen können.

      Ihr Hirngespinst einer Auslöschung "aller Deutschen nach Namen" ist eine unerträgliche Übertragung Ihres persönlichen Gedankengutes auf 'Andere' (Deutsche mit 'anderen' Namen und Identitäten)...und ausschließlich dazu geeignet, einen Diskurs über den sichtbar gemachten Rassismus in Deutschland zu delegitimieren bzw. zu unterbinden...

       

      Der von Ihnen so pathetisch eingeforderte "Perspektivwechsel" weg von "politischen", "rechtlichen", medial und gesellschaftlich 'anerkannten' Deutungshoheiten wurde Ihnen hier von einem Überlebenden präsentiert - und Sie haben nichts Besseres zu tun, als dieses als "todbringende" "Stimmungsmache" zu verunglimpfen.

       

      Wenn Ihre "Vernunft" notwendigerweise ("diktatorisch"?) emotionslos, empathiefrei und staatsloyal sein muss, kann sie jedenfalls keine Basis für eine Lösung des Problems sein - sondern nur Grundlage für die Betonierung des "Deutschen" Status' Quo auf Kosten migrantischer Communities bieten!

    • @mowgli:

      Dieses Kölner NSU-Tribunal scheinen Sie mit irgendwelchen Ehrenmordmachos zu verwechseln.

      Tatsächlich soll es die notwendige Aufmerksamkeit erregen und aufklären.

    • @mowgli:

      Eine sehr differenzierte Sicht Ihrerseits. Man stelle sich vor, die Deutschen (oder alle Nicht-Muslime) würden von Türken nur in den Kategorien Ditib, Erdogan und "die Minerette sind unsere Bajonette" denken. Es gibt nicht den "Deutschen", genauso wenig wie es "den Türken" gibt.

      • @Chris Toph:

        Danke. Nun ja, vielleicht nicht differenziert genug. Es regt mich einfach zu sehr auf, wenn Menschen Recht und Rache nicht auseinanderhalten können und im Rausch ihrer Emotionen nicht begreifen, dass sie ihren Feinden immer ähnlicher werden. Darunter leider dann die Objektivität.

         

        Erst heute Nachmittag im Auto hat mir mein Radio wieder einen Anlass gegeben, emotional zu werden. Es berichtete mir, dass der ehemals friedensbewegte Hubertus Knabe, heute hauptberuflich Stasi-Gedenkstätten-Direktor und Provokateur, sich gerne modern geben möchte. Er hätte erklärt, hieß es, das Überwältigungs- oder auch Indoktrinationsverbot, das in den 1970-ern noch Konsens war, sei – wie die politische Korrektheit aus Sicht der AfD – nicht mehr zeitgemäß und überholt. Heute, so Knabe sinngemäß, müsse man die jungen Leute emotional überwältigen, damit sie überhaupt noch etwas fühlen.

         

        1976 hatten sich der Landeszentralrat für politische Bildung Baden-Württemberg und Politik-Didaktiker verschiedener parteipolitischer und konfessioneller Ausrichtung im 9.000-Seelen-Ort Beutelsbach darauf geeinigt, dass politische Bildungsarbeit nur gefördert wird, wenn Lehrende ihren Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sie in die Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung zu bilden. Damals wollte man Schüler noch zu mündigen Bürgern heranbilden, zumindest in Baden-Württemberg.

         

        Heute scheint man den mündigen Bürger – wenigstens in der Gedenkstätte Hohenschönhausen – nicht mehr zu wollen. Heute will man mit RTL und Pro7 konkurrieren, mit Handys, Werbung und dem Internet. Und wenn die emotional überwältigen dürfen um der Quote willen, dann will Hubertus Knabe das auch dürfen im Sinne seiner angeblich guten Sache. Scheiß auf mündige Bürger. Wer braucht die schon, wenn er Hubertus Knabe hat?

         

        Wieso nur kommt mir grade „Sah ein Knab[e] ein Röslein steh‘n“ in den Sinn? Können Sie mir das erklären, werter Chris Toph?

        • @mowgli:

          Hm. Meiner Meinung nach haben Leute wie Herr Knabe (und im Wesentlichen der größere Teil der der Politik) ihren "Kompas" für die Art und Weise verloren, wie sich die Bürger und speziell die Jugendlichen heutzutage überhaupt noch erreichen lassen. Viele weichen daher einfach auf Überspitzungen und extreme Effekte aus, wiederum mit der Folge, dass deren Positionen eben als Provokation und fern der Realität angesehen werden. Was dann die Handelnden zwingt, bei der nächst besten Gelegenheit nochmals mehr ins Extreme zu verfallen, weil ja schon ein Gewöhnungsprozess gegriffen hat. Eine solche Methode ist daher eine Art Abwärtsspirale der Diskussionsqualität. Daher kann ich Ihre Enttäuschung, Mowgli, sehr gut nachvollziehen. Der Punkt ist nur, um das zu ändern, müsste das "Gesamptkonzept" der Kommunikation zwischen Medien und Konsumenten bzw. zwischen Verantwortlichen und Zuerreichenden neu gedacht werden, aber das ist viel Arbeit.

          • @Chris Toph:

            Gesamtkonzept natürlich nur mit einem "p", sorry.