Erdoğan bei Putin

Heute besucht der türkische Präsident sein russisches Pendant in St. Petersburg, um die Krise zwischen beiden Ländern zu beenden

Versöhnung der Autokraten

Verhältnis Der gescheiterte Militärputsch macht möglich, was noch bis vor Kurzem als undenkbar galt: die Wiederannährung der Regierungen in Moskau und Ankara. Die Frage ist, wie weit beide Seiten dabei gehen

Ein Bild der Harmonie, aufgenommen einen Monat vor dem Abschuss des russischen Kampfjets: Erdoğan und Putin im Kreml im September vergangenen Jahres Foto: Ivan Sekretarev/reuters

Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Russland und die Türkei bewegen sich im Zeitraffer aufeinander zu. Am heutigen Dienstag reist Recep Tayyip Erdoğan in die Heimatstadt Wladimir Putins, St. Petersburg. Die Gespräche „mit meinem Freund Wladimir“ würden eine neue Seite in den beiderseitigen Beziehungen aufschlagen, so der türkische Präsident vor der Visite.

Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets im türkischen Luftraum an der Grenze zu Syrien hatte Moskau im November letzten Jahres Sanktio­nen gegen Ankara verhängt. Der Kremlchef erklärte die Türkei für russische Pauschaltouristen zur No-go-Area. Türkische Studenten und Bauarbeiter mussten Russland verlassen. Das russische Staatsfernsehen präsentierte den türkischen ­Autokraten als Inbegriff des Satans.

Doch die Hysterie hatte etwas Künstliches. Die Kontrahenten waren sich nie wirklich fremd. Nicht umsonst nannte die Zeitschrift Foreign Policy Erdoğan die „anatolische Version“ Putins. Damals hinkte der Türke dem Russen bei der Errichtung eines autoritären Präsidialsystems noch hinterher.

Putin verlangte eine Entschuldigung. Erdoğan sträubte sich. Erst im Juni schickte der Sultan dem Zaren das Schuldeingeständnis. Seither gibt es rege Kontakte. Nach dem Putsch gegen den türkischen Staatschef Mitte Juli war es der russische Präsident, der ihn umgehend seiner Solidarität versicherte. Auch westliche Regierungschefs unterstützten Erdoğan – warnten jedoch davor, mit der Verfolgung der Putschisten nicht die Fundamente der türkischen Demokratie einzureißen. Moskau dagegen verliert bis heute kaum ein Wort über die innenpolitische Entwicklung in der Türkei. Und wenn doch, dann äußert man meist „Verständnis“.

Die Kampfhähne Erdoğan und Putin haben sich also versöhnt – aber aus der Schulddebatte ging der Russe als klarer Sieger hervor. Erdoğans Syrien-Politik ist gescheitert, Russland und die USA unterstützen weiterhin gegen den Willen Ankaras die Kurden. Darüber hinaus nehmen islamistische Anschläge in der Türkei zu und auch die Wirtschaft stottert.

Die wachsende türkische Distanz zum Westen beflügelt den Kreml. Russland behauptet schon länger, vom Westen umzingelt und belagert zu werden. Nun stößt Erdoğan ins selbe Horn. Für Putin sind der Ausgang des Putsches und Erdoğans Orientierungsschwierigkeiten ein Geschenk. Bei einem Sieg der Militärs wäre die Westausrichtung der Türkei unumkehrbar geworden. Hartnäckig halten sich in Moskau daher Gerüchte, der russische Geheimdienst habe Erdoğan vor dem Putsch gewarnt.

Der türkische Kniefall im Juni und Erdoğans aktuelle Versöhnungstour nach St. Petersburg zeigen, wer heute das Sagen hat: Putin. Wieder ist der Kremlchef fein raus: Nach Ägypten und dem, was von Syrien noch übrig bleibt, sucht nun auch die Türkei Moskaus Nähe. Selbst Israel und Teheran sehen im Kreml einen potenziellen Ansprechpartner. Russlands Einfluss im Nahen Osten ist ohne großen Aufwand in kurzer Zeit gewachsen. Auffallend: Im Falle Erdoğans kostet Moskaus staatliche Propagandamaschine ihren Erfolg bislang nicht aus.

Der Kritik der EU an der Türkei hält Russland seine „wertfreie“ Außenpolitik entgegen. Innenpolitisch liegen Moskau und Ankara ohnehin auf einer Höhe. Beide befördern einen überbordenden Nationalismus, beide versuchen eine imperiale Vergangenheit wiederzubeleben und beide huldigen im religiösen Bereich orthodoxem Obskurantismus beziehungsweise politischem Islamismus. Und die Chefs beider Staaten haben sich einen Namen als Verschwörungstheoretiker gemacht.

Der Russe ging als klarer Sieger aus der Schulddebatte ­zwischen Erdoğan und Putin hervor

Wird sich die Türkei vom Westen verabschieden und auch der Nato den Rücken kehren? Noch ist das nicht abzusehen. Moskau jedenfalls träumt von einer neuen Allianz. Nach der Normalisierung der Beziehungen zur Türkei könnte die neben Russland und Kasachstan zu einem dritten, neuen Motor von Putins Eurasischer Wirtschaftsunion werden. Diese Einbindung sieht Wladimir Sotnikow, Leiter des Moskauer „Russland-Ost-West“-Instituts als vorrangiges Ziel des Petersburgers Gipfels.

Ähnlich formuliert das Fjodor Lukjanow, Herausgeber der führenden Zeitschrift für Außenpolitik, Russia in Global Affairs: Die Union sei Moskaus Priorität. Noch sei jedoch nicht klar, ob Erdoğan bereit sei, sich auf diesen Weg einzulassen. Aber: Der Tausch der EU-Zollunion gegen eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Union wäre wirtschaftlich für Ankara ein miserables Geschäft, weil Russlands Wirtschaft schwach ist.

Neben geopolitischen Schachzügen wird es in Petersburg auch um Gemüse und Obst gehen, deren Importverbote aufgehoben werden sollen. Vor allem ist Russland aber an den ins Stocken geratenen Energieprojekten gelegen: dem Ausbau des Atommeilers Akkuyu im türkischen Südosten und der Wiederaufnahme des Baus der Turkish-Stream-Gaspipeline über den Boden des Schwarzen Meeres bis in die Türkei.

Sollte Ankara bereit sein, seine Unterstützung der syrischen Opposition einzustellen, könnte der Kreml womöglich vorschlagen, seine militärische Hilfe für die Kurden abzubrechen, vermuten russische Beobachter. Fest steht bislang: am Vorabend der Versöhnungstour hob die Türkei die Sendesperre für das russische Propagandaportal „Sputnik“ auf.