Treffen von Biden und Erdoğan: Freifahrtschein für den Autokraten
Wer gehofft hat, Biden werde dem türkischen Präsidenten gegenüber klare Kante zeigen, ist enttäuscht worden. Der US-Präsident setzt auf Erdoğans Loyalität zur Nato.
D ie freie Welt der Demokratien muss wieder zusammenstehen gegen den wachsenden Einfluss von Diktatoren, Autokraten und Populisten, so hatte Joe Biden sein außenpolitisches Programm zu Beginn seiner Amtszeit vorgestellt. Und er schien sich daran halten zu wollen. Den russischen Präsidenten Wladimir Putin nannte er in einem Interview einen „Killer“, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen „Autokraten“.
Mit dem Letzteren hat sich der US-Präsident nun am Montagabend nach dem Nato-Gipfel in Brüssel erstmals persönlich zusammengesetzt. Von einer klaren Kante gegen Autokraten war da nichts mehr zu sehen. Schon während des Gipfels ging Biden mit einem warmen Lächeln im Gesicht an allen anderen Teilnehmern vorbei und hielt ausgerechnet bei Erdoğan an, dem Mann, der sich im demokratischen Westen mehr und mehr zur Unperson gemacht hatte.
Begeistert zeigte das türkische Fernsehen den ganzen Tag über, wie Biden freundlich mit Erdoğan plauderte und ihm väterlich auf den Rücken klopfte. Während die anderen Chefs und Chefinnen der Nato-Verbündeten bei Biden jeweils nur für wenige Minuten vorsprechen konnten, widmete der US-Präsident dem türkischen „Autokraten“ fast eine ganze Stunde, davon zwei Drittel der Zeit im vertrauten Gespräch unter vier Augen.
Zwischen Bidens Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im April und dem Nato-Gipfel im Juni scheint sich die Einschätzung der neuen US-Administration über Erdoğan und seine Türkei erheblich verändert zu haben. Und das liegt nicht an Erdoğans Politik.
Putin wiegt schwerer
Mit dem Ausstieg aus der Istanbul-Konvention für Frauenrechte, dem angestrengten Verbot der kurdisch-linken HDP und der anhaltenden unerbittlichen Verfolgung jeden Kritikers seiner Politik hat Erdoğan in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass er gar nicht daran denkt, sich vom Autokraten zum Demokraten hin zu bewegen.
Doch Biden war das anscheinend egal. Er wollte von Erdoğan ein Loyalitätsbekenntnis zur Nato und damit Unterstützung gegen Putin, mit dem er sich am Mittwoch auseinandersetzen wird. Das hat er offenbar bekommen, auch wenn Erdoğan beim größten Streitpunkt, der von den USA geforderten Verschrottung des von Russland gekauften Anti-Raketensystems S-400, nicht gleich zustimmen wollte. Das werden Experten jetzt weiter diskutieren.
Dafür hat Erdoğan Bidens Wunsch zugestimmt, die Türkei möge doch als einziger Nato-Staat nach dem Rückzug aller anderen westlichen Truppen noch in Afghanistan bleiben und dort für die Sicherheit auf dem Flughafen von Kabul sorgen. Erdoğan hat durch das Treffen mit Biden bekommen, was er wollte. Die Rückkehr in den Kreis der westlichen Regierungschefs. Er kann damit aus der Isolation der letzten Jahre ausbrechen, in die er die Türkei selbst geführt hatte.
Ob Biden ihm dafür noch echte Zugeständnisse abverlangen wird, muss sich in den kommenden Monaten zeigen. Doch erst einmal hat der stark angeschlagene Erdoğan mit dem Treffen zu Hause punkten können. Eine rote Karte für Autokraten sieht anders aus.
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