Trauern im Exil: Verfluchtes digitales Beileid
Das Exil ist am schwersten, wenn ein geliebter Mensch im Heimatland stirbt. Wir erfahren nur über Facebook davon und müssen die Trauer allein tragen.
![Das Facebook-Logo spiegelt sich in einem Auge. Das Facebook-Logo spiegelt sich in einem Auge.](https://taz.de/picture/7012336/14/266557951-1.jpeg)
A n einem Sonntagmorgen rief mich mein Bruder an, der auch in Hamburg lebt. Er erzählte mir, dass unser Onkel in Syrien gestorben sei. Er hatte es auf Facebook gesehen, nicht persönlich gehört. Ich habe schon oft gesagt, dass Facebook einer der letzten Orte ist, an dem viele Syrer*innen noch miteinander in Kontakt treten. Syrer*innen im Exil und im Heimatland; die im Norden, wo islamische Milizen und die Syrische Freie Armee unter türkischer Herrschaft stehen; im Westen, wo die Kurden und amerikanischen Truppen sind, und jene in Mittel- und Südsyrien, das Assad kontrolliert, mit Unterstützung russischer und iranischer Truppen und Milizen.
Ich erfahre fast nur durch Facebook, was in meinem Heimatort nahe Damaskus passiert. In den ersten paar Jahren nach meiner Flucht war ich sehr verärgert darüber, dass wir nur über Facebook informiert wurden, wenn ein Verwandter gestorben ist. Oder wenn jemand geheiratet hat. Es hat so etwas Oberflächliches, das ich für die traurigsten, aber auch für die schönen Neuigkeiten unwürdig finde.
Heute kann ich besser verstehen, dass viele Syrer*innen digitales Beileid suchen, weil sie im Exil kein persönliches Beileid erhalten. Oder weil viele Menschen einfach alles auf Facebook veröffentlichen; weil sie nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur in den sozialen Medien leben. Vielleicht, weil sie alle früheren Kontakte durch Krieg und Flucht verloren haben und keine neuen Familien, Nachbar*innen oder Freunde im Exil finden. Sicherlich haben die Pandemiejahre das noch verschlimmert.
Die Trauer über meinen verstorbenen Onkel war für mich schwer zu ertragen, auch weil ich das mir bekannte Umfeld nicht erleben konnte. Es war sehr komisch, als ich am nächsten Tag zur Arbeit ging und sah, wie die Hamburger*innen die Sonne genossen. Und wie glücklich sie waren und wie schön die Stadt mit der Sonne wird. Ich hatte wie immer Termine und meine Kolleg*innen fragten: „Na, wie geht’s?“ Und ich habe ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Ich sagte: „Mir geht es gut, danke, und dir?“ Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht sagen konnte, dass mein Onkel gestorben war. Warum? Vielleicht weil ich keine Nebenbei-Beileidsbekundung hören wollte, während ich bei der Arbeit war.
Ich habe darüber nachgedacht, wie der Tod in der deutschen Gesellschaft behandelt wird. Wenn ich jetzt in meinem Ort in Syrien wäre, wären die ganze Straße und der Stadtteil auch traurig. Es gäbe eine dreitägige Bestattung, bei der Familie, Freund*innen und Bekannte zusammenkommen. Die Trauer wird mit vielen Menschen geteilt und man hat wirklich das Gefühl, sie nicht allein zu tragen.
Aber hier in Deutschland sehe ich, dass die Hinterbliebenen die Traurigkeit allein tragen. Oder vielleicht innerhalb der kleinen Familie. Eine deutsche Freundin hat mir 2018 erzählt, dass die Deutschen Angst vor dem Tod haben. Zwei Jahre später sagte ein syrischer Freund zu mir, er habe Angst, in Deutschland zu sterben. Diese Sätze haben mich lange beschäftigt. Und ich frage mich, ob absichtlich kein Platz für den Tod in der deutschen Gesellschaft gemacht wird. Kein Platz für die geteilte Traurigkeit.
Natürlich kann ich nur von meiner Erfahrung bis jetzt sprechen und nur über das Lebens in einer Großstadt. Aber auch wie die Medien mit diesem Thema umgehen, finde ich interessant. Besonders wenn sie über prominente Personen sprechen. Es wird einfach der Fakt präsentiert, keine emotionale Anteilnahme. Die Person ist tot.
Wenn ich dagegen die arabischen Medien lese, wird es emotionaler: „Er hat unsere Welt verlassen“ und „möge Allah seine Seele schützen“. Für uns Syrer*innen im Exil ist es sehr schwer zu erleben, wie die uns vertrauten Menschen die Welt verlassen, und wie hilflos wir danebenstehen müssen. Umso mehr, wenn uns nur Likes und Kommentare auf Facebook bleiben. In solchen Momenten wiegt das Exil am schwersten, wenn wir die Traurigkeit allein tragen müssen.
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