Trauerfeier für Helmut Kohl: Die Leere der Provinz
Ludwigshafen ist alte Bundesrepublik, Helmut Kohl inszenierte dort seine Bürgerlichkeit. Zurück bleiben die Widersprüche seiner Politik.
Mit dem Sarg, der erst am frühen Morgen aus dem Haus getragen und mit dem Hubschrauber nach Straßburg geflogen wurde, ist auch der Blumenschmuck, den Bürger während der langen Aufbahrungszeit vor dem Haus abgelegt haben, verschwunden. Eine einzelne Rose liegt vor der Haustür. Die leere Straße in Oggersheim irritiert Levy.
Zwei Wochen lang musste die Polizei Besucher und Fernsehteams dirigieren. Hier hatte die Witwe, Maike Kohl-Richter, Kohls Sohn und der Enkelin über die Polizei ausrichten lassen, dass sie Hausverbot haben. Die biederen Fassaden der Siedlung bergen wahrscheinlich viele solcher bürgerlichen Vorstadtdramen. Aber bei einem Menschen wie Kohl ist auch der Familienstreit XXL.
Patric Levy war eigentlich auf dem Weg zu einem Termin in Stuttgart gewesen, als er bei Ludwigshafen entschied, von der Autobahn abzufahren. Jetzt steht er da im weißen Hemd, Dreitagebart und randloser Brille, neigt für einige Minuten seinen Kopf und verschränkt die Hände vor dem Bauch. Danach schießt er ein Selfie.
Sein Großvater sei ja dreißig Jahre lang in der SPD gewesen, erzählt Levy. Trotzdem hat er selbst bei seiner ersten Bundestagswahl, 1990, den Kanzler der Einheit gewählt. Es ist dieser Europapolitiker Kohl, von dem er sich heute verabschiedet. Der Kanzler des Stillstands, der damals wenig zu brennenden Asylbewerberheimen und dem Raubrittertum gesagt hat, das sich in den Bundesländern der ehemaligen DDR breit machte, ist ihm weniger in Erinnerung geblieben.
Wirtschaftswunder, Tüchtigkeit und Optimismus
Helmut Kohl – ein Staatsmann von Weltrang, von denen Deutschland nur wenige gehabt hat, das ist auch heute wieder zu hören. In den Reden in Straßburg, aber auch von den Menschen am Straßenrand, die nicht selten ungefragt zugeben, ihn nie gewählt zu haben. Kohl, Schröder, Merkel, die Kanzler der jüngeren Geschichte kamen oft aus provinziellen und kleinbürgerlichen Verhältnissen. Das ist eine Stärke, es unterscheidet Deutschland etwa von Frankreich mit seinen Eliteuniversitäten oder den USA. Aber keiner hat die Provinzialität, die man ihm immer auch vorgeworfen hat, so zelebriert wie Kohl.
Dabei ist Oggersheim nur ein Vorort der Industrie- und Arbeiterstadt Ludwigshafen. Und der Ort selbst ist ja auch nur deshalb zur Großstadt angewachsen, weil sich hier im vergangenen Jahrhundert fast zufällig der Chemieriese BASF angesiedelt hat. Ludwigshafen, das ist die alte Bundesrepublik, geprägt von Optimismus des Wirtschaftswunders und dem Vertrauen, in Fleiß und Tüchtigkeit, wie es auch im Ruhrgebiet einmal war. Anders als in Essen und Duisburg ist der Industriemotor hier nie ins Stottern geraten. Kultur und Kommunalpolitik laufen bis heute im Takt des Weltkonzerns. BASF ist der größte Arbeitgeber der Region, der freilich dank globaler Strukturen immer weniger Gewerbesteuer hier lässt. Das sieht man der Stadt an.
„Kohl hätte eigentlich die Auswirkungen seiner neoliberalen Politik direkt vor seiner Haustür beobachten können“, sagt Peer Damminger. Während der Sarg mit dem Kanzler auf der Reise ist, sitzt er mit seiner Frau Bärbel Meier beim Kaffee in ihrem Heim, auf der Parkinsel, einem Stadtteil südlich der Innenstadt. Gegenüber wohnt der ehemalige Bürgermeister, vor den Häusern parken polierte Autos. Keine Trauer bei Dammingers, der Fernseher ist aus.
Beide kennen Ludwigshafen schon aus ihrer Kindheit, waren fortgezogen und erst Ende der 80er Jahre wieder zurückgekehrt. Als Theatermacher, um mit Regisseur René Pollesch Avantgarde auf die Bühne zu bringen. Heute arbeiten sie vor allem mit Schulklassen im Brennpunktviertel Mundenheim.
Ein Freund hat Damminger geraten, sich beim Thema Kohl nicht um Kopf und Kragen zu reden. Sein Theaterladen ist auf städtische Zuschüsse angewiesen. Die Oberbürgermeisterin ist von der CDU. „Aber genau das war doch das System Kohl“, erregt sich Damminger. „Macht ist nicht verliehen, sondern Eigentum. Wer dagegen ist, wird ausgeschlossen.“
Militärbrimborium, Staatsakt und Bootsfahrt
Er beginnt, vom Misstrauensvotum 1982 zu sprechen. Damals seien dann die Konformisten nach oben gekommen, und spätestens mit der Wiedervereinigung sei es mit den alternativen Lebens- und Arbeitsformen zu Ende gewesen. Unter Kohl gab es immer weniger öffentliche Gelder für Kultur, erst recht für Experimente, die auch mal das bestehende System infrage stellten. Für „linkes Gesocks“ habe der null Verständnis gehabt, sagt Damminger.
Aber selbst hier in diesem Künstlerhaus ist Helmut Kohl auch der Europapolitiker Kohl. Den Staatsakt in Straßburg findet Damminger angemessen. Aber das Brimborium mit Militär und Trauerkondukt auf dem Rhein und die Beerdigung in der Kaiserstadt Speyer? „Was ist das für eine Symbolik?“, fragt er, der Theatermann, genervt.
Vor allem eine recht bürgerferne. Im Gezergel darum, ob Kohls letzter Gang vom Berliner Protokoll oder von seiner zweiten Frau, Meike Kohl-Richter, bestimmt wird, sind die Bürger und auch seine Verbundenheit zur Heimatstadt vergessen worden. Im Ablauf des Europaparlaments, man kann das symptomatisch finden oder mit den hohen Sicherheitsvorkehrungen in Straßburg erklären, sind Bürger gar nicht erst vorgesehen.
In Ludwigshafen müssen sich die Menschen dann am Nachmittag im Vorbeifahren von ihrem Ehrenbürger verabschieden. Kohl war nicht öffentlich aufgebahrt, er wird nicht im Ludwigshafener Familiengrab beerdigt. Auch das Kondolenzbuch war nur im Dom zu Speyer ausgelegt. Als wäre es eine Pflichtübung, fährt der Leichenwagen den Sarg und einen irritierend roten Kranz aus Rosen, den Meike Kohl-Richter ihrem Mann gewidmet hat, fast ungebremst an den Honoratioren und Bürgern vorbei. Das dauert nur Augenblicke, dann ist der Konvoi Richtung Rhein verschwunden.
Abends verfolgen rund 600 Bürger den Trauergottesdienst auf einer großen Leinwand, die im Garten des Doms in Speyer aufgebaut wurde. Für 3.000 wäre Platz gewesen. Wie bei jeder richtigen Beerdigung sind die einen gekommen, um zu trauern, andere aus Neugier. Manche sind da, um gesehen zu werden.
Gut sichtbar: die Junge Union
In gesteppten Windjacken und Krawatte steht eine Abordnung der Jungen Union zusammen. Die Männer und wenigen Frauen halten Schilder hoch: „Danke für die Deutsche Einheit“ und „Danke für Europa“ haben sie darauf geschrieben. Darunter gut lesbar: „JU“. Es sind die einzigen Schilder und Transparente weit und breit.
Nein, das sei kein Wahlkampf, sagt der Bundesgeschäftsführer, als man ihn fragt, wo Trauer aufhört und Kampagne beginnt. Kaum hat er seinen Satz beendet, hat schon das erste Fernsehteam die adretten Jungfunktionäre ins Visier genommen.
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