Touristiker über Urlaub 2023: Reisen, aber bitte nachhaltig!
Die Reiseindustrie soll nachhaltiger werden, sagt Sören Hartmann, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Tourismuswirtschaft.
taz: Herr Hartmann, wie laufen die Geschäfte der Reisebranche?
Sören Hartmann: Für den Sommer sehen die Geschäfte gut aus. Aber es gibt zwei Effekte, die gegenläufig sind: Einerseits sehen wir den unheimlichen Nachholbedarf, den wir gerade haben. Corona hat gezeigt: Die Leute wollen reisen, sich bewegen, ausgehen.
Trotz Inflation und Verteuerung?
Der großen Reiselust steht tatsächlich gegenüber, dass wie fast alles andere auch das Reisen teurer wird. Gerade wenn Sie es mit 2019 vergleichen, als viele zum letzten Mal gereist sind. Das können sich nicht alle leisten, ein Teil der Bürger zögert deshalb auch mit der Buchung oder verzichtet sogar ganz. Dass der durchschnittliche Reisepreis pro Gast aber so deutlich – in einigen Bereichen um bis zu 30 Prozent – gestiegen ist, liegt auch daran, dass sich viele Menschen einfach mehr gönnen: Sie verreisen mehr Tage oder buchen Hotels mit mehr Sternen.
geboren 1963 in Bergisch Gladbach, Der Touristiker ist seit März 2022 Präsident des Bundesverbands der Deutschen Tourismuswirtschaft e.V. (BTW). Von Juli 2017 bis Ende 2022 Touristikvorstand der REWE Group und stand dem internationalen Board der DER Touristik Group als Chief Executive Officer vor.
Also ein reduzierter, aber gut verdienender Kundenkreis? Wie sieht es konkret im Deutschlandtourismus aus?
Auch hier waren die Gästezahlen in den ersten Monaten des Jahres noch nicht auf Vorcoronaniveau. Und die Umsatzzahlen gilt es im Detail zu betrachten. Nehmen Sie das Gastgewerbe: Im ersten Quartal stieg der Umsatz im Vergleich zu Vorcoronazeiten um 7 Prozent. Eigentlich nicht schlecht. Wenn Sie das aber inflationsbereinigt sehen, ist er um 12 Prozent gesunken. Die Kosten der Betriebe für Nahrungsmittel, Energie und Personal sind einfach immens gestiegen.
Trifft der aktuelle Arbeitskräftemangel den Tourismus besonders hart?
Er ist bei uns genauso Thema wie in anderen Industrien, und ja, es ist für unsere serviceorientierte Branche eins der drängendsten Probleme. Uns treffen der demografische Wandel und das Thema Generationswechsel. Zudem haben wir während Corona Mitarbeiter verloren.
Ist es denn nicht auch eine Frage der geringen Gehälter im Tourismus?
Sicherlich konkurrieren wir mit anderen Industrien um Arbeitskräfte, die teils höhere Gehälter bezahlen können und arbeitnehmerfreundlichere Arbeitszeiten haben. Viele bei uns arbeiten, wenn andere frei haben. Aber die Gründe für Personalmangel sind vielfältiger. Der demografische Wandel gehört dazu und auch der zunehmende Wunsch nach mehr Work-Life-Balance u. a. durch kürzere und flexiblere Arbeitszeiten. Wir müssen unsere Branche deshalb als Arbeitgeber noch attraktiver aufstellen und mit der Politik gemeinsam Lösungen erarbeiten, um dem Personalmangel zu begegnen.
Bundesarbeitsminister Heil sprach auf dem alljährlich stattfindenden Tourismusgipfel in Berlin und versprach, Deutschland solle für ausländische Arbeitskräfte attraktiver werden. Wie denn?
Wir brauchen einfachere Zuwanderungsregelungen, so wie sie jetzt gesetzlich auf den Weg gebracht werden. Auch müssen Prozesse, unter anderem bei der Visabeantragung, verbessert werden. Potenzielle Arbeitskräfte warten teils monatelang auf Antragstermine. Und wir brauchen ganz generell eine stärkere Willkommenskultur im Land.
Deutschland hat eine mittelständische Tourismusstruktur, aber genau diese Betriebe sterben überall aus …
Tatsächlich geht die Zahl der Betriebe zurück. Die Tourismusbranche in Deutschland ist ja sehr kleinteilig, sehr familiär. Die Vielfalt an Herausforderungen – von Digitalisierung über Personalmangel, Nachhaltigkeit und immensem Bürokratieaufwand bis hin zu den Kostensteigerungen – macht gerade diesen kleineren Betrieben zu schaffen. Dieser Druck stärkt nicht unbedingt die Bereitschaft in der nächsten Generation, einen Betrieb zu übernehmen. Politische Unterstützung und Entlastungen sind nötig, um gerade auch den ländlichen Raum und seine touristischen Strukturen zu stärken.
Sind Sonne und Strand immer noch die Bestseller im Tourismus?
Für viele deutsche Urlauber gilt das weiterhin, aber das Reisen ist vielfältiger geworden: Sport, Wellness, Abenteuer, Kultur gehören für viele im Urlaub dazu. Für Gäste aus dem Ausland – z. B. Indien oder China –, die nach Europa kommen, steht Kultur sogar ganz weit oben auf der Themenliste.
Welche Herausforderungen bringt das mit sich?
Dort entsteht eine neue Mittelschicht und damit geht die Reisenachfrage nach oben. Die massiv steigende Nachfrage gilt es zu managen und nachhaltig zu gestalten. Es wird nicht funktionieren, dass alle mit demselben Ressourcenverbrauch verreisen, wie wir es bisher getan haben. Auch wir, in der schon weit entwickelten deutschen Tourismuswirtschaft, müssen deshalb als Vorbild vorangehen und versuchen, das Reisen nachhaltiger zu gestalten.
Fliegen ist für acht Prozent des Treibhauseffekts verantwortlich. Ist das Fliegen rückläufig?
In der Summe ist der Flugverkehr bei Weitem nicht auf dem Vorcoronaniveau, sondern bei ca. 70 Prozent. Innerdeutsche Flüge sind massiv zurückgegangen. Dort, wo ich mit der Bahn gut hinkomme, nimmt der Kunde sie gerne an. Und die Zahl der Geschäftsreisen hat sich gegenüber 2019 mehr als halbiert. Bei Mittel- und Fernstrecken werden wir jedoch weiterhin den Flieger brauchen. Hier ist die einzige Alternative, künftig mit nachhaltigen Treibstoffen zu fliegen, die derzeit entwickelt werden.
Umfragen zeigen, die Deutschen wollen nachhaltig reisen, letztendlich entscheidet aber der Preis. Wie erreicht die Branche die Kunden mit anderen Konzepten?
Ich glaube, wenn das Angebot ähnlich wie im Lebensmittelhandel transparenter wird, die positiven Effekte von nachhaltigen Reisen klarer kommuniziert werden, dann greifen auch mehr Kunden zu. Mit der neuen Generation kommt in dieser Frage auch viel mehr Bereitschaft.
Erwarten Sie einen Nachhaltigkeitsschub durch die neue Generation?
Auch die jüngere Generation will reisen, aber nur mit nachhaltigen Alternativen und mehr Transparenz. Die neue Generation bringt mehr Bewusstsein und Klarheit zu diesem Thema mit. Sie werden die Treiber sein. Das ist eine große Aufgabe für uns: Reisen ermöglichen, das nachhaltiger, bewusster und transparenter ist.
Was gibt es denn für konkrete nachhaltige Initiativen in der Branche?
In den Zielgebieten, in Hotels, in der Gastronomie geht es schon deutlich voran. Es geht hier u. a. um Heizen, Gebäudedämmen, um Kühlung und weniger Lebensmittelverschwendung. Es gibt zudem sehr viele Initiativen mit dem Ziel der Klimaneutralität, z.B. unser durch das Bundeswirtschaftsministerium gefördertes Projekt Deutscher Klimafonds Tourismus. Im Bereich der Kurzstrecke gibt es eine zunehmende Verkehrsverlagerung auf die Schiene. Im Kreuzfahrtbereich erarbeitet man neue Antriebe – von Brennstoffzelle über Wasserstoff bis hin zu hybriden Lösungen. Auch beim Thema Flug wird viel geforscht. Leider gibt es noch keine massentaugliche Lösung. Die Forschung muss mit Unterstützung und Investitionen der Politik weiter forciert werden. Zudem darf der Tourismus in Verteilungskämpfen z. B. um Wasserstoff nicht vergessen werden: Politische Strategien müssen uns mit einbeziehen.
„Zeitenwende in der Tourismuswirtschaft“ war das Thema des Tourismusgipfels in Berlin. Was heißt das?
Der gesellschaftliche Paradigmenwechsel, der derzeit zu beobachten ist, muss sich auch in unserer Entwicklung widerspiegeln, damit wir weiterhin Perspektiven haben. Insbesondere zum Thema Nachhaltigkeit brauchen wir auch aus der Branche klare Zugeständnisse. Mobilität ist dabei ein wichtiges Thema, aber man darf sich nicht darauf beschränken. Wir müssen vieles noch strukturierter und gemeinschaftlicher angehen. Wenn wir z. B. wollen, dass die Menschen in Deutschland verstärkt mit der Bahn anreisen, brauchen die Destinationen auch ein sinnvolles Angebot für die Mobilität vor Ort. Es greift alles ineinander.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“