Toleranz in Märchen: Nur wenige werden „erlöst“
Däumling, der Bucklige, das Mädchen ohne Hände: In Märchen sind behinderte Figuren oft Sympathieträger. Das Ziel: die Akzeptanz des Andersseins.
Kaum ein Zeitung, die Inklusion nicht schon einmal als Märchen bezeichnet hat. Märchen im Sinne von Lüge, von „geht doch nicht“. Dabei können wir uns viel abschauen von Märchen. Denn sie erzählen von Wundern, Flüchen und nicht selten auch von Menschen, die alles andere als perfekt und gerade deshalb besonders sind.
In etwa 80 von 200 Märchen der Brüder Grimm tauchen Figuren mit körperlicher oder geistiger Behinderungen auf. Meist sind sie für ihre Behinderungen nicht selbst verantwortlich, meist werden sie als selbstständig dargestellt. Besonders Figuren mit geistiger Behinderung gelten oft als überaus fürsorglich.
Die schöne Prinzessin war anfangs ein armes Mädchen, der tapfere Prinz galt als dümmster der drei Brüder. Es gibt den Buckligen, den Däumling, das Mädchen ohne Hände. Das vergessen wir gerne, weil wir uns oft nur an das glückliche Ende eines Märchens erinnern.
Dabei erzählen Märchen sehr häufig von gesellschaftlichen Außenseitern die mit Hilfe von Zaubereien oder wundersamen Begegnungen ihre Situationen und die Vorurteile der anderen überwinden. Märchenfiguren mit Behinderung sind häufig Sympathieträger.
Nur wenige werden „erlöst“
Wie mit behinderten Figuren in Märchen besonders beim Happy End umgegangen wird, hängt vor allem davon ab, wann die Behinderung eingetreten ist. Wenn die Behinderung von Anfang an Teil des Märchens ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Figur sie auch am Ende behält. Nur wenige werden „erlöst“.
Ein typisches Beispiel sind die Geschichten über Däumlinge, die zwar aufgrund ihrer Tapferkeit oder ihrer Klugheit über sich hinauswachsen aber dabei ihre tatsächliche Größe behalten. Tritt die Behinderung erst im Laufe der Erzählung auf, etwa durch eine Bestrafung, einen Fluch oder sogar als Opfer für andere, wird sie am Ende aufgelöst. Auf diese Weise bekommt etwa das Mädchen ohne Hände am Schluss ihre Hände wieder, die sie zu Beginn für ihren Vater opfern musste.
Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.
Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.
In Märchen steckt also häufig Toleranz. Denn anders als in modernen Erzählungen hängt das Glück der Menschen nicht an der Auflösung der Behinderung. Das Mädchen ohne Hände ist bereits wieder mit Mann und Kind vereint, noch bevor sie ihre Hände wiederbekommt.
Tanja Kollodzieyski, Jahrgang 1987, bloggt unter rollifraeulein.com
Viele der Märchen stellen damit einen sehr inklusiven Gedanken in den Mittelpunkt der Geschichte: Der Glaube an sich selbst und die Akzeptanz des Andersseins ist das eigentliche Ziel, die Auflösung der Behinderung erscheint nur als Zugabe. Wir sollten daran denken, wenn also das nächste Mal die Idee der Inklusion als Märchen verschrien wird.
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