Tödlicher AKW-Unfall vor 50 Jahren: Nach allen Regeln der Kunst verharmlost
1975 starben zwei Arbeiter bei einem Unfall im Atomkraftwerk Gundremmingen. Staatliche Stellen sorgten dafür, dass keine lückenlose Aufklärung stattfinden konnte.
Es dauerte nur Sekunden, bis die weithin sichtbaren Kühltürme des Atomkraftwerks Gundremmingen Ende Oktober in sich zusammengesunken waren. Das Bild der schwankenden Riesen wird ins kollektive Gedächtnis eingehen – als (falsches) Sinnbild für das Ende des Atomkraftwerkstandortes Gundremmingen. Ein anderes Ereignis – vor genau 50 Jahren – hat das nicht geschafft, ja nicht einmal in den Annalen der Anti-AKW-Bewegung den ihm gebührenden Platz gefunden.
Am 19. November 1975 starben bei einem Unfall im Block A des heute drei Blöcke umfassenden bayerisch-schwäbischen Atommeilers zwei Arbeiter. Noch einen Monat zuvor hatte der in den USA veröffentlichte sogenannte Rasmussen-Report zur Reaktorsicherheit das Risiko, durch einen Reaktorunfall umzukommen, mit 1 zu 5 Milliarden angegeben – nun gab es die ersten Toten in einem deutschen AKW.
Das Unglück kam für die politisch Verantwortlichen zur absoluten Unzeit: Die Einstellung in der Bevölkerung gegenüber der Atomenergie stand Anfang der 70er-Jahre am Scheideweg. Gegen immer mehr im Bau befindliche oder noch geplante AKW regte sich Widerstand. Im badischen Wyhl war im Frühjahr 1975 das Baugelände des geplanten Meilers von Gegnern besetzt worden. Die Bundesregierung und insbesondere die Bayerische Staatsregierung und die CSU fürchteten ein Erstarken dieser neuen Umweltbewegung – und so wurden der Gundremminger Unfall und seine Implikationen nach allen Regeln der Kunst heruntergespielt, verharmlost und vertuscht. War es denn überhaupt ein Atomunfall?
Am Tag des Unfalls wurde das seit 1967 laufende Atomkraftwerk bei Günzburg wegen mehrerer notwendiger Reparaturen abgeschaltet. Auch eine schon länger schadhafte Dichtung an einem Absperrschieber – einer Art Ventil – sollte an diesem Tag repariert werden. Es war entschieden worden, dass trotz der Abschaltung des Reaktors die Reaktorwasserreinigungsanlage, die radioaktive Stoffe aus der Flüssigkeit filtert, in Betrieb bleiben sollte. Die Leitung mit 280 Grad heißem, radioaktivem Wasser, in der sich der Schieber befand, stand vorschriftswidrig noch unter hohem Druck.
Als der 35-jährige Schlossermeister Otto Huber und sein 46-jähriger Kollege Josef Ziegelmüller um 10.42 Uhr die Halterung der sogenannten Stopfbuchsdichtung lösten, schoss mit einem Druck von 65 bar explosionsartig ein radioaktives Wasser-Dampf-Gemisch aus der Leitung.
Otto Huber starb unmittelbar am Unfallort, einer engen Grube, an der Verbrühung. Josef Ziegelmüller konnte sich zunächst mit Hilfe des Strahlenschutzmannes Manfred Otto aus dem Armaturenraum retten und wurde von Otto, der sich dabei selbst verbrüht hatte, aus dem Gebäude gebracht. Ziegelmüller wurde mit dem Krankenwagen zur ärztlichen Erstversorgung ins nahe Krankenhaus Lauingen gefahren. Anschließend wurde er mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik für Brandverletzte nach Ludwigshafen geflogen. Dort erlag er in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages seinen Verletzungen.
Radioaktivität soll keine Rolle gespielt haben
In der verspäteten Information an die Öffentlichkeit legten die Betreiber des Atomkraftwerks, RWE und Bayernwerk, ebenso wie die Aufsichtsbehörde – das bayerische Umweltministerium – Wert auf die Feststellung, dass Radioaktivität bei dem Unfall keine Rolle gespielt habe. Der technische Leiter des AKW Gundremmingen, Reinhardt Ettemeyer, sprach von einem „ganz konventionellen Unfall“. Und der damalige Umweltminister Max Streibl (CSU) berichtete noch zwei Jahre später dem Landtag: „Die Radioaktivität hatte keinen Anteil an der Todesursache.“ Das Wasserdampf-Wasser-Gemisch sei nur schwach radioaktiv gewesen.
Tatsächlich herrschte schon vor Beginn der Arbeiten im Armaturenraum eine hohe Strahlenbelastung von 300 bis 500, an der Rohrleitung selbst 1.000 Millirem pro Stunde. Zulässig waren damals 5.000 Millirem im ganzen Jahr. Es gab wegen der hohen Strahlung also enormen Zeitdruck. Mutmaßlich auch aus diesem Grund waren für die Arbeiten zwei besonders erfahrene Schlosser eingeteilt.
Zu der schon früh abgegebenen Erklärung, die Todesfälle hätten nichts mit Radioaktivität zu tun, passt nicht recht, dass bei der Bergung der Unfallopfer schwerer Atemschutz eingesetzt wurde. Sowohl bei der Versorgung des Verletzten als auch beim Transport des Toten wurden Strahlenschutzmaßnahmen ergriffen. Das für Unfälle im Gundremminger Meiler zuständige Krankenhaus Lauingen war dafür nur unzureichend ausgerüstet.
Ganz anders als bei einem konventionellen Betriebsunfall transportierte man die Leichen zur Obduktion nach München in die Strahlenschutzabteilung des Schwabinger Krankenhauses. Den beiden Männern wurden Hautteile, mehrere Organteile und ganze Organe entnommen. Diese wurden zur Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) in Neuherberg zur radiologischen Untersuchung geschickt.
Die Untersuchungsergebnisse blieben – Teil der Geheimniskrämerei, die sich nun immer mehr entspann – lange Zeit unter Verschluss. In einem als „Vertraulich“ gestempelten Schreiben der GSF ging der Bericht an die bayerischen Behörden. In dem Schreiben, das der taz vorliegt, bittet die GSF im Mai 1976 „um Nachricht, ob die Proben beseitigt werden können oder zu Ihrer Verfügung weiterhin aufgehoben werden sollen“.
Die Leichen wurden nach der Obduktion in Zinksärge eingelötet. Eine sorgfältige Dekontamination der Leichen wäre aufgrund der Hautverbrennungen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen, weshalb die genaue Höhe ihrer „Verstrahlung“ offensichtlich niemals festgestellt wurde. Dazu passt, dass die Angehörigen die Toten nach dem Unfall nicht mehr zu Gesicht bekamen.
Die Trauerfeier für Otto Huber und Josef Ziegelmüller fand am 25. November 1975 in Lauingen statt, unter großer öffentlicher Anteilnahme und in Anwesenheit von Beamten des Bayerischen Umweltministeriums. Nach den Gräbern der beiden Männer sucht man heute allerdings vergebens. Die Grabsteine sind entfernt und man ist offenbar auch jetzt noch bemüht, buchstäblich Gras über die Sache wachsen zu lassen.
Verschwundene Proben
Wirbel gab es 2009 nach einem Bericht der Zeitschrift Stern über den Verbleib der entnommenen sog. „Gewebeproben“ – es handelt sich um Haut von verschiedenen Stellen des Körpers, mehrere Lungenteile und ein Schädelteil des zuerst Verstorbenen, Ähnliches vom zweiten Opfer, dazu aber auch noch die Schilddrüse, die Nieren, Teile der Milz und des Dünndarms sowie ein Stück der Wirbelsäule. Bis zum Mai 1976 lagen die Leichenteile noch bei der GSF. Laut einem Sprecher des Helmholtz-Zentrums – wie die GSF heute heißt –, wurden die Leichenteile allerdings als „klinischer Abfall“ ins Kernforschungszentrum Karlsruhe verbracht und dort offenbar verbrannt. Die Asche der Leichenteile landete in der Asse, dem maroden ehemaligen Salzbergwerk in Niedersachsen, das als „Versuchsendlager“ deklariert und früher von der GSF betrieben wurde. Wo genau zwischen den dort vor sich hin rottenden 126.000 Fässern, kann wegen unzureichender Dokumentation niemand mehr sagen.
Noch in den 70er-Jahren hatte der Unfall mit den zwei Toten und einem Verletzten auch ein gerichtliches Nachspiel. In letzter Instanz hat die Große Strafkammer des Landgerichts Augsburg die vorher erfolgten Verurteilungen allerdings aufgehoben und fünf Mitarbeiter des Atomkraftwerks Gundremmingen mit einer bemerkenswerten Begründung freigesprochen: Das Gericht müsse, wenn sich die Unfallursache nicht einwandfrei klären lasse, die für die Angeklagten günstigste Variante für das Urteil wählen. Damit wurde den beiden Getöteten die alleinige Schuld an ihrem Tod zugeschoben – sie hätten mit großer Wahrscheinlichkeit den Schieber mit einem Handrad eigenmächtig geöffnet.
Der 13. Januar 1977 besiegelte dann nach nur 11 Jahren Laufzeit überraschend das Schicksal des Gundremminger Reaktors. Zwei witterungsbedingte Kurzschlüsse in Hochspannungsleitungen führten zur Abtrennung des AKW vom Netz und zogen eine Überflutung des Reaktorgebäudes mit radioaktivem Kühlwasser nach sich. Die Reparaturen und notwendigen Nachrüstungen hätten geschätzte 250 Millionen DM gekostet.
Drei Jahre nach diesem Totalschaden beschlossen RWE und Bayernwerk die endgültige Stilllegung von Block A. Stattdessen trieben sie den Bau der neuen Blöcke B und C voran, die mittlerweile – 2017 und 2021 – auch stillgelegt sind.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ist damit der Atomstandort Gundremmingen Geschichte? Oder wie es der Gundremminger Bürgermeister Tobias Bühler (CSU) am Tag der Sprengung der Kühltürme ausdrückte: „Es geht ein Stück Heimat verloren!“ Das Gemeindeoberhaupt kann sein Heimatgefühl nach dem Verschwinden der nicht radioaktiven Kühltürme immerhin noch bis mindestens in die 2030er-Jahre hinein an den strahlenden Reaktorgebäuden des AKW wärmen – und danach an Deutschlands größtem Zwischenlager für bis zu 192 Castoren.
Auch das 1970 ins Gemeindewappen aufgenommene Atomsymbol kann Gundremmingen also mit Recht behalten – und wahrscheinlich auch eine der größten Anti-AKW-Bürgerinitiativen Deutschlands mit dem langen Namen „FORUM Gemeinsam gegen das Zwischenlager und für eine verantwortbare Energiepolitik e. V.“.
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