Todestag von Heinrich Böll: Es droht der Verlust dieser Welt
Vor 39 Jahren ist der Schriftsteller Heinrich Böll gestorben. Welche aktuellen Zeitbezüge finden sich in seinem literarischen Werk?
Es gehe ihm in seiner Arbeit um die „Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land“, sagte Heinrich Böll. Die Universität Frankfurt hatte den Schriftsteller im Wintersemester 1963/64 dazu eingeladen, seine „Ästhetik des Humanen in der Literatur“ in ihren alljährlichen Poetikvorlesungen zu entwerfen.
Damals waren Naziherrschaft, Holocaust und Zweiter Weltkrieg schon eine Weile her und aus den Trümmerlandschaften die funktional-hässlichen Städte des westdeutschen Wirtschaftswunders gewachsen. Die Zerstörungen aus zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft reichten indes bis tief in die Gesellschaft und die Kultur des Landes hinein, und sie wirkten lange über 1945 hinaus. Das Politische, das Öffentliche und das Private, von 1933 bis 1945 war alles in den Dienst des Hakenkreuzes gestellt worden, die Wörter waren kontaminiert, nach Auschwitz konnten mit den Worten Theodor W. Adornos bekanntlich keine Gedichte mehr geschrieben werden.
Böll hatte sich demgegenüber bewusst „entschlossen, zu überleben, zu lesen, zu schreiben, zu essen, zu lieben“, wie er es als direkte Antwort auf Adorno in Frankfurt formulierte. Er trat dort auf „als einer, der seinen Aufenthalt verlängert hat“ – mit dem Ziel, Sprache und Land wieder bewohnbar zu machen.
Literaturnobelpreisträger 1972
Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger von 1972, wird heute meist mit seinen Erzählungen in Verbindung gebracht, die sich um das Leben der sogenannten einfachen Leute in der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre und um die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg drehen. Seit seinem Tod am 16. Juli 1985 und erst recht nach 1989 ist er etwas in Vergessenheit geraten.
Zu Unrecht, denn seine Themen als Schriftsteller und seine Interventionen als Intellektueller weisen über ihre Zeit hinaus. Von großer Aktualität erscheint die Frage nach der Bewohnbarkeit. Die des Landes, aus dem im Angesicht der Klimakatastrophe gleich der ganze Planet geworden ist. Und die der Sprache, der Gesellschaft, der ganzen öffentlichen Sphäre, die immer aggressiver und verhärteter erscheint.
Dem Schriftsteller der Nachkriegszeit ging es freilich um Literatur und Politik, um die Gesellschaft nach der Barbarei und Entmenschlichung unter der Herrschaft der Nazis. Von einer planetaren ökologischen Krise oder einer mit Trump, Nazi-Trollen, Telegram und Tiktok konfrontierten Öffentlichkeit wusste er noch nichts.
Bewohnbare Sprache
Die Formel von der bewohnbaren Sprache im bewohnbaren Land bringt dennoch präzise auf den Punkt, was heute wieder auf dem Spiel steht. Ihr Horizont markiert nichts weniger als den Verlust der Welt als Lebensgrundlage der menschlichen Zivilisation und den (neuerlichen) Verlust einer offenen Gesellschaftsordnung, die auf einem liberalen Konsens, auf demokratischer Kontrolle von Macht und auf Ausgleich kapitalistischer Unwuchten aufbaut.
Die Bewohnbarkeit von Land und Sprache ist jeweils das Gegenteil dieses Verlusts. Sie zeichnet sich aus durch die Möglichkeit, vertrauen zu können, durch „Nachbarschaft, Einander-Helfen, Verbundenheit“. Sie ist angewiesen auf „öffentliche Verbündete“, auf Verantwortung füreinander und „Gebundenheit“ in der Welt. Ihr ärgster Feind ist der alte deutsche Gehorsam und der Nihilismus der reinen Befehlsempfänger, eine „befohlene Demokratie“ könne es nicht geben, so Böll.
Seine Ausführungen zur „Ästhetik des Humanen“ skizzieren ein, wie man mit einem aktuellen Begriff sagen könnte, intersektionales Verständnis von Bewohnbarkeit als existenzieller Voraussetzung eines Lebens, das mehr ist als nacktes Überleben, in einer humanen Gesellschaft, die Raum zur menschlichen Entfaltung gewährt.
Bölls Begriff der Bewohnbarkeit verbindet die planetar-ökologischen Herausforderungen mit den politisch-gesellschaftlich-kulturellen Fragen der Gegenwart. Wir befinden uns mitten einer eskalierenden Klimakrise, die zur Klimakatastrophe zu werden droht, einer öffentlichen Sphäre, in der demokratische Politik und Debatte von Populisten und Faschisten pulverisiert werden und einer Gesellschaft, die mit sich selbst und den Konsequenzen ihres Handelns überfordert zu sein scheint.
Richtschnur der Menschheit
So könnte die Frage nach der Bewohnbarkeit zur Richtschnur für den Umgang der Menschheit mit dem Planeten und mit sich selbst werden. Dass der Begriff nie wirklich definiert wird, sondern offen bleibt, verdeutlicht seinen fluiden Charakter, der keinen Anfang und kein Ende kennt. Er eröffnet vor allem Denkräume, die sich als Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen zur politischen Ökologie und zur Stellung des Menschen in der Welt der Klimakrise anbieten.
In diesen Überlegungen könnte es um das politische Subjekt gehen, das die bewohnbar gemachten und gehaltenen Räume sich dann aktiv aneignet und mithin bewohnt, und das vielleicht in Anlehnung an den französischen Philosophen Claude Lefort als „Leerstelle“ gedacht werden würde. Es ginge um Hannah Arendts Begriff des Handelns und der „Sorge um die Welt“ als Ausgangspunkt aller Politik, mit deren Hilfe Bewohnbarkeit als ein Verhältnis der aktiven Sorge um die soziale und ökologische Umwelt skizziert werden könnte.
Es könnte um die Freiheit gehen, an einem Ort zu bleiben und Bindungen aufbauen zu dürfen, die in die Zukunft weisen, wie es die Philosophin Eva von Redecker beschrieben hat. Vielleicht würde auch Hartmut Rosas Thema der „Resonanz“ und die Frage nach dem Umgang mit dem so verbreiteten wie diffusen Gefühl der Entfremdung des Menschen von der Welt und von sich selbst aufgegriffen, das sich durch die gesamte Moderne zieht.
Etwas Existenzialismus
Etwas Existenzialismus würde auch Platz finden, etwa mit Albert Camus, der vom Schweigen der Welt sprach, aber auch festhielt, „wenn der Mensch erkennen würde, dass auch das Universum lieben und leiden kann, dann wäre er versöhnt“. Und nicht zuletzt käme noch mal Böll selbst zur Sprache, der mit seiner Verteidigung des „Provinzialismus“ in gewisser Weise heutige Debatten um Dezentrierung und Dekolonisierung des Subjekts und der Welt vorwegnahm, in denen das „Provinz-Werden“ ein häufiges Motiv ist.
Heinrich Böll war kein politischer Theoretiker, wollte es niemals sein und sollte auch nicht so gelesen werden. Seine Einmischung als politischer Intellektueller war immer konkret, seine „Ästhetik des Humanen“ blieb wie seine „Bewohnbarkeit“ auf die Literatur und auf seine Zeit gerichtet.
Deren Fragestellungen und Herausforderungen waren noch die der Industriemoderne, sie bezogen sich auf den Nationalstaat und auf eine Gesellschaft, die im Vergleich zur heutigen in übersichtliche Gruppen mit klaren, oft antagonistischen Positionen und Zuschreibungen strukturiert war. Die Pole der Öffentlichkeit hießen Bild, Spiegel und vielleicht konkret, die taz gab es noch lange nicht, erst recht keine sozialen Medien.
Faschistische Gespenster
Für Böll und andere Intellektuelle seiner Zeit ging es vor allem darum, die faschistischen Gespenster der Vergangenheit zu überwinden, die sich als recht beharrlich erwiesen. Heute ist es andersrum. Dystopische kurz- und mittelfristige Perspektiven und apokalyptische Zukunftsszenarien lähmen die politische Imagination und verstärken den Sog regressiver, illiberaler und letztlich faschistischer Kräfte, die sich überdies als rebellisch und nonkonformistisch tarnen.
Die Gefahren scheinen heute nicht aus der Vergangenheit zu kommen, sondern aus der Zukunft. Sie werden eine vielfache Neuformulierung gesellschaftlicher und moralischer Fundamente erzwingen.Die bewohnbare Sprache und das bewohnbare Land müssen nicht nur verteidigt, sie müssen neu gedacht und unter neuen Bedingungen geschaffen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“