Till Raethers Roman „Die Architektin“: Sülze und Beton
Beim Spaziergang erklärt Autor Till Raether seine Faszination für die Berliner Bauskandale der 70er Jahre, Buffets und nikotinverhangene Redaktionen.
Till Raether ist an der Friedrichstraße in die falsche Bahn gestiegen. Er schreibt von unterwegs: „Tut mir leid, das dauert jetzt, bin erst Priesterweg. Bus natürlich verspätet.“ Und etwas später: „Kleine Westberlin-Stadtrundfahrt für mich, jetzt am Insulaner.“
Am Bahnhof Schlossstraße angekommen, irrt Raether im unwirtlichen Dreieck aus Betonbauten und Straßenkreuzungen umher.
Als er mit seinem Rollkoffer am Treffpunkt ankommt, Hornbrille, Jeans und Turnschuhe, wirkt er wie ein leicht desorientierter Tourist. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, schließlich ist Till Raether Autor mehrerer Romane, die das Westberliner Lebensgefühl der Mauerzeit virtuos einfangen. Sein 2020 erschienener Roman „Treue Seelen“ etwa kreist um ein zugezogenes junges Paar, dessen Liebe in der spießigen Beamtenidylle der Mauerstadt verwelkt.
„Ich lebe seit 1998 in Hamburg und mittlerweile bewege ich mich durch die Stadt wie ein Tourist“, lacht Raether, selbst amüsiert darüber, dass er beinahe den Hermann-Ehlers-Platz nicht gefunden hätte, dessen Platanen vom riesigen grauen Schatten des Steglitzer Kreisels fast erdrückt zu werden scheinen.
Till Raether: „Die Architektin“. btb, München 2023, 416 Seiten, 24 Euro
Gepflegte Blumenrabatten
Natürlich ist das Bild mit dem Touristen schief. Raether wurde 1969 zwar in Koblenz geboren, zog aber im Kindergartenalter mit den Eltern in genau so eine Angestellten-Beamten-Siedlung in Zehlendorf, wie sie in „Treue Seelen“ beschrieben wird: Gepflegte Blumenrabatten, ein berlinernder Hausmeister und Gartenfeste, auf denen man sich beim Nudelsalat siezt.
Raether kennt das Ambiente also gut, er badete nach der Schule im Sommerbad am Insulaner und ging, wie viele Westberliner Kinder, mit seinen Eltern einkaufen auf der Schlossstraße. Als kleiner Junge, erinnert er sich, war er fasziniert von der überdimensionierten S+U-Bahn-Überbauung nebst Bürohochhaus, auf die wir nun blicken. „120 Meter und 30 Etagen – es war das höchste Gebäude weit und breit und schien mir wie der Inbegriff weltläufiger Eleganz.“
Diese Faszination teilten damals viele Investoren – und bereuten es später bitter: Der Steglitzer Kreisel war schon bei der Fertigstellung 1974 ein Pleiteprojekt und führte zu einem Bauskandal, an dessen Ende der Westberliner Senat auf 42 Millionen Mark sitzen blieb und der Bausenator und der Oberfinanzdirektor wegen Baufilzverstrickungen gehen mussten.
Schlechte Schlagzeilen
Schlechte Schlagzeilen liefert der Kreisel bis heute. Gerade ist wieder mal eine Vermarktungsidee gescheitert: Der Turm ist eingerüstet, das Büro, das unter dem Label „Überlin“ Eigentumswohnungen mit City-Blick verkaufen sollte, ist mit Rollgitter verrammelt.
Raethers kürzlich erschienener aktueller Roman, „Die Architektin“, kreist um die Schöpferin dieses unseligen Bauwerks. Sigrid Kressmann-Zschach (1929–1990), aus Dresden übergesiedelte Architektin und Bauunternehmerin, war selbst eine schillernde Figur. Mondän auftretend, dreimal verheiratet, mit besten, teils amourösen Beziehungen in hohe Senats-und Finanzkreise, schaffte sie es, gigantische Bauvorhaben wie den Kreisel oder später das „Ku’damm-Karree“ umzusetzen.
Auch eine gewisse Ruchlosigkeit im Geschäftlichen sagte man ihr nach. Ihr Zitat „Männer, Geld und Häuser kann man nie genug haben“ ziert nun die Rückseite von Raethers Roman.
Auf dem Cover jedoch prangt nicht der Kreisel, sondern ein anderes Wahrzeichen der Westberliner Baukultur: der poppig-expressionistische „Bierpinsel“. Warum? Raether zuckt nonchalant die Schultern. Der Kreisel, im Buch stets „Der Kegel“ genannt, sei einfach zu hässlich. Während wir, den Kreisel im Rücken, die Schlossstraße entlanggehen, erzählt er, wie er nach „Treue Seelen“ auf der Suche nach neuen Ideen war und gedanklich immer wieder in die Zeit seiner Kindheit zurückkehrte.
Marion, Achim und Sigrid
„Ich habe mich aber gewehrt gegen die Stoffe, die sich sofort aufdrängten, Kinder vom Bahnhof Zoo und so weiter.“ Die Fortschreibung der Westberliner Underground-Mythen überlässt Raether, der als Person ebenso schnörkellos rüberkommt wie sein Erzählstil, lieber anderen. Seine Figuren heißen nicht David oder Iggy, sondern Marion, Achim – oder eben Sigrid.
Elektrisiert war er, wie er sagt, als er in einer Dokumentation auf eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von Sigrid Kressmann-Zschach stieß: „Sie sitzt vor dem Untersuchungsausschuss und soll aussagen über ihre Verbindungen in Senatsverwaltungen und Finanzdirektion. Sie ist wahnsinnig sorgfältig frisiert, zeigt ein leichtes, ungeheuer selbstbewusstes Lächeln und nimmt sich eine Zigarette aus einer schlanken Schachtel. Wie diese Figur in sich ruht, das hat mich sofort gepackt.“
Raether begann, sich die reale Frau auf dem Foto als Romanfigur auszumalen. „Ich wollte eine Art Zeitkapsel um sie herum bauen.“ Das anfängliche Unbehagen, über eine reale Person mit teils noch lebenden Angehörigen zu schreiben, habe sich verflüchtigt in dem Maße, wie seine Figur ein fiktionales Eigenleben entwickelte.
Raether, 1988 einer der wenigen aus Westberlin zur Deutschen Journalistenschule nach München entsandten Nachwuchsschreiber, später stellvertretender Chefredakteur der Brigitte und Kolumnist bei Brigitte Woman, ist ein Rechercheur vor allem von Gefühlen, seine Methode kann man wohl ganzheitlich nennen. Für „Die Architektin“ guckte er Filme und Dokus, las sich durch Presseberichte über die Bauskandale, mietete sich mit seiner Frau sogar im Hotel Steglitz International im Sockel des Kreisels ein: „Absolutes Zeitkapsel-Gefühl“, bestätigt er lachend.
Schlecht sitzende Anzüge
Er bestellte im Internet die damals populären Parfums Grey Flannel und Azurée, die ihm die Erwachsenenwelt seiner Kindheit näherbrachten, der Geruch der Eltern, wenn sie sich zum Ausgehen fertig machten. „Sofort sehe ich Korridore vor mir, in denen Männer glauben, wichtige Geschäfte zu machen, aber ihre Anzüge könnten besser sitzen“, schreibt er in einem fadengehefteten orangefarbigen „Fanzine“, einem der zeittypischen Undergroundmagazinen nachempfundenen Blättchen, das dem Roman beiliegt und in dem er Trouvaillen rund um die Recherche an der „Architektin“ versammelt.
Auch Raethers erster journalistischer Text ist dort nachzulesen: eine im Spandauer Volksblatt erschienene Rezension der Science-Fiction-Bücher von J. G.Ballard.
Nachwuchsjournalist beim Spandauer Volksblatt ist auch Otto Bretz, der Protagonist in „Die Architektin“ – ein etwas linkischer 19-Jähriger, der als Praktikant Gerüchten über Spuk auf der „Kegel“-Baustelle nachgehen soll. Im Lauf der Romanhandlung gründet Otto in der Familienwohnung in Tempelhof eine WG, trifft auf klassenkampfbewusste Zeitungssetzer, halbseidene Spirituosenhändler, jugendliche Ex-Knastis und natürlich auf die Architektin, deren Charme er fast zu erliegen droht.
Raether stützt sich jetzt fürs Foto mit einer Hand auf einen Poller an der Schlossstraße, im Hintergrund erhebt sich der futuristisch auskragende Bierpinsel. Genüsslich zitiert er aus Presseberichten der damaligen Zeit: „Sie legte sich die öffentliche Hand um die schlanke Taille“ (Tagesspiegel). Oder: „Sie steht auf schlanken Beinen fest im Geschäftsleben, macht Bankiers und Bauherren schöne blaugraue Augen“ (Der Spiegel).
Weibliche Ausnahmefigur
Es habe ihn befremdet, sagt er, wie sexistisch die Öffentlichkeit damals auf eine erfolgreiche Geschäftsfrau wie Kressmann-Zschach reagiert habe. Zwischen Zoten und Bewunderung sei eine Hilflosigkeit gegenüber einer weiblichen Ausnahmefigur zu spüren.
Überhaupt, die Zoten. In „Die Architektin“ sind sie so zahlreich wie Hinweise auf orange-braune Tapeten oder Buffets mit Aspikhäppchen. Etwa wenn ein Bauunternehmer Otto fragt: „Wer is ihmchen denn?“, oder als die junge Architektin bei einer Branchensoirée auftritt: „Es gab Herva mit Mosel und Engelhard, vielleicht, damit mindestens einer im Laufe des Abends sagen konnte, es mache ‚den Schwengel hart‘. Wohl eher ‚zart‘, sagte sie. Mein lieber Herr Gesangsverein, nicht von schlechten Eltern.“
Beim Schreiben habe das nicht nur Spaß gemacht, sagt Raether und schildert, wie er als Kind, malend in der Ecke, die Atmosphäre der Erwachsenengespräche aufsog. Je mehr leere Flaschen auf den Tischen, desto weniger waren die Gespräche für seine Ohren bestimmt. „Diese Stimmung kann ich heute noch abrufen“, behauptet er. Neben der Liebe zum Detail macht auch die Fülle an komischen Situationen „Die Architektin“ zu einem Lesevergnügen.
In dem Podcast „Sexy und Bodenständig“, in dem Till Raether zusammen mit der Autorin Alena Schröder übers Schreiben reflektiert, hat er seine Freude an den Geschmacksverfehlungen der 1970er beschrieben: Sülze und Racke Rauchzart, chartreusefarbene Leinenservietten … bei der Buchpremiere wurde natürlich der gefürchtete Scharlachberger Meisterbrand kredenzt, der stets griffbereit in der Schreibtischschublade der Volksblatt-Feuilletonredakteurin steht.
Beim Fränkischen Lokalblatt
Wie viel Realität in den Beschreibungen des alkohol- und nikotingeschwängerten Redaktionsalltags steckt, mag Raether, vielleicht mit Rücksicht auf ehemalige Kollegen, lieber nicht ausführen. Er deutet aber an, dass es Ende der 1980er beim Praktikum in einem fränkischen Lokalblatt ähnlich rustikal zuging – inklusive Kulturkampf zwischen dem aussterbenden Blei- und dem neuen Lichtsatzverfahren.
In einer der besten Szenen im Buch gerät Otto, auf der Suche nach der sagenumwobenen „Wunderkammer“, die in den „Kegel“-Rohbau eingebaut worden sein soll, in den Hobbykeller eines Spirituosenhändlers: Finnsauna, eine „Führerbunker“ genannte Bar und eine Modelleisenbahn mit beunruhigend vielen Güterzügen. Einige Sechsämtertropfen später hat Otto keine Geheimnisse im Reporterblock, aber große Fluchtreflexe – und Kopfschmerzen.
Till Raethers Berlin der 1970er ist bevölkert von bräsigen Beamten, Kleinbürger:innen, planlosen Student:innen und kapitalistischen Raubrittern, die sich an den üppigen Berlin-Subventionen aus Bonn bereichern. Ein zutiefst provinzielles Panorama – sogar die legendäre Drogendiskothek „Sound“ in Schöneberg hat über dem Kassenfenster ein Schild „Keine Ausländer!“.
Das mit dem Schild könne er belegen, sagt Raether schnell – ihm ist wohl bewusst, dass er damit an dem Mythos „Gefährliches, aber sympathisches Westberlin“ sägt. Überhaupt, das betont er, während wir die steile Treppe des Café Baier erklimmen, ein verschachteltes Traditionscafé über der Schlossstraße, sei sein Blick auf die Stadt seiner Jugend immer ein liebevoller – bis heute.
Kein Topchecker-Auftreten
Liebevoll und zugewandt wie die Kolumnen, in denen er seiner meist weiblichen Leserschaft das Zusammenleben mit Teenagern oder den Wert bester Freundinnen nahebringt. Sensibel wie der Ermittler Danowski aus seinen Hamburg-Krimis.
Raether selbst liebt leise Töne, für das Metropolenbewohnern oft eigene Topchecker-Auftreten hat er eher Spott übrig. Und doch: Im Café Baier erzählt er, wie er in Hamburg ankam und beim Anblick des U-Bahn-Plans tiefen Frust empfunden habe: „Nur drei U-Bahn-Linien! Ich habe fast geweint …“ Wie er dann seine Frau kennengelernt habe, auch sie Westberlinerin, aus Lankwitz, und man sich sofort auf einer tieferen Ebene verbunden war. Berlin habe er Ende der 1990er auch nicht aus Überdruss verlassen, sondern aus Mangel an interessanten Jobmöglichkeiten.
Mit über 50 wieder zurückziehen in eine Hauptstadt, die mittlerweile viel von ihrem Provinzgeruch abgestreift hat und Hochhäuser vorweisen kann, neben denen der Steglitzer Kreisel mickrig aussieht? „Ach nein“, Till Raether winkt freundlich ab: „Ich würde doch immer überall das Westberlin meiner Kindheit suchen und auch finden, und das würde mich deprimieren.“
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