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Weiche Schale, weicher Kern: Babyschild­kröten unternehmen ihre ersten Laufversuche Foto: Andrea Wojtkowiak

Tierschutz in BeninParadies für Schildkröten

Am Strand von Benin legen Schildkröten jedes Jahr ihre Eier ab. Ein paar Freiwillige sind entschlossen, die stark gefährdeten Tiere zu schützen.

D as Gelände ist klein und mit einem weißen Holzzaun eingefasst. An eine Stelle ist ein grauer Elefant gemalt, an eine andere Stelle ein gewaltiger Schildkrötenpanzer. Hier, am östlichen Stadtstrand von Cotonou, Wirtschaftsmetropole im westafrikanischen Benin, stehen zwischen Zaun und Meer ein paar Tische, Holzstühle, Sonnenschirme und selbstgebaute Fitnessgeräte. Vor allem am Wochenende, wenn die Sonne langsam untergeht und vom Meer her eine kühle Brise über den Strand weht, spielen die Jungs aus dem Viertel hier Fußball und Gäste trinken Softdrinks und Bier.

Der Ort, den Bienvenue Djossou geschaffen hat, ist aber viel mehr als nur eine Strandbar für einen Sundowner. Gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Vitus Elegbede schließt er ein großes Metallschloss auf und öffnet eine knarzende Tür. In diesem abgeschlossenen Bereich schlüpfen jedes Jahr Tausende Meeresschildkröten. Rund um den Jahreswechsel bis in den Februar hinein ist Hochsaison, und die beiden Männer haben alle Hände voll zu tun.

Bienvenue Djossou zeigt auf mehrere ausrangierte Autoreifen. Daneben hat er Stäbe gesteckt. An den Enden kleben kleine Schilder mit einem Datum darauf und der Zahl der Schildkröteneier, die hier liegen. Dann deutet Djossou mit seinem Zeigefinger in den Sand. Für ungeübte Augen ist es nicht zu erkennen. Doch dort liegen winzige weiße Stückchen, die an eine zerbrochene Muschel erinnern, aber zur Schale eines Schildkröteneis gehören. „Hier sind gerade Schildkröten geschlüpft“, sagt Djossou.

Gestern hat es schon welche gegeben, und auch am Morgen sind wieder neue auf die Welt gekommen. Wenn der Sand mehr verwühlt ist als gewöhnlich, dann geht das Schlüpfen los, zeigt seine Erfahrung als Schildkrötenschützer. Gleichzeitig weiß er: Die Arbeit der Männer lohnt sich.

Kostenlose Eier zu verbieten ist schwer

Denn hier kommen winzige Oliv-Bastardschildkröten auf die Welt, die stark gefährdet sind. Eine Schildkröte legt zwar bis zu 170 Eier. Aus zwei Dritteln dieser schlüpfen auch Schildkröten, die ihren Weg zurück ins Meer finden. Doch etwa die Hälfte stirbt in den ersten Lebensmonaten und Jahren und kehrt nie zurück an den Strand, um dort Eier zu legen.

Doch bisher sind die meisten gar nicht erst auf die Welt gekommen. Menschen, die in der Nähe des Strandes leben, haben die Eier eingesammelt, verkauft oder selbst gegessen. „In Benin gab es stets die Einstellung: Was uns die Natur gibt, das kann sich jeder nehmen, das gehört allen“, sagt Joséa Dossou Bodjrènou, Präsident der nichtstaatlichen Organisation Nature Tropicale, die sich seit 1998 für den Schutz der Meeresschildkröten starkmacht.

Auch Bienvenue Djossou und Vitus Elegbede haben das oft beobachtet: Menschen würden nach Eiern suchen und sich besonders freuen, wenn sie eher zufällig auf welche stoßen. Dabei gelten Schildkröteneier in Benin nicht einmal als besondere Delikatesse.

In dem westafrikanischen Staat leben knapp 40 Prozent der rund 13 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen unterhalb der Armutsgrenze. Gerade Fleisch und Eier, aber auch Gemüse sind teuer. Viele Menschen ernähren sich von Brei aus Mehl oder gestampftem Getreide, der zwar satt macht, aber kaum Nährstoffe enthält. Wer wenig Geld hat, verzichtet auf das Frühstück und überbrückt die Zeit bis zum ersten Essen mit einer Tasse stark gezuckertem Tee. Schon Hühnereier gelten als Besonderheit.

In Benin gab es stets die Einstellung: Was uns die Natur gibt, das kann sich jeder nehmen, das gehört allen

Joséa Dossou Bodjrènou, Präsident der Organisation Nature Tropicale

Tierschutz wirft kaum Geld ab

Menschen kostenlose Eier und Fleisch zu verbieten, das ist in einem Land, in dem Naturschutz noch als Luxus angesehen wird, unmöglich. Stattdessen braucht es Aufklärungsarbeit. Für die 120 Kilometer lange Küste mit Grenzen zu Nigeria und Togo hat Nature Tropicale mehr als 100 Éco-Gardes (deutsch: Ökohüter) ausgebildet. Sie beobachten alles, was auf ihrem Küstenabschnitt passiert, sammeln die Schildkröteneier ein und bewachen diese, bis daraus kleine Schildkröten schlüpfen.

Bevor die Saison beginnt, nehmen die Éco-Gardes im Juni oder Juli an einem Workshop teil, um ihre Kenntnisse aufzufrischen. Alle sind ehrenamtliche Helfer*innen, was den Schildkrötenschutz zu einer großen Herausforderung macht. In Benin arbeitet die große Mehrheit der Bevölkerung im informellen Sektor: Frauen gehen putzen oder verkaufen am Straßenrand Obst und Gemüse. Männer arbeiten auf Baustellen, bauen auf kleinen Parzellen etwas Getreide an. Viele machen mehrere Jobs gleichzeitig, um über die Runden zu kommen. Ein geregeltes Einkommen und eine Absicherung im Krankheitsfall gibt es nicht.

Wer sich intensiv für den Schildkrötenschutz einsetzt, hat im Moment kaum Zeit, anderweitig Geld zu verdienen. Dabei gehören gerade jene, die in der Nähe des Strandes leben, häufig zur armen Bevölkerung, sagt Marie Djengue. Die Geografin ist bei Nature Tropical für das Meeresschildkröten-Programm verantwortlich, bildet die Éco-Gardes aus und steht im ständigen Kontakt mit ihnen.

Über den Nachrichtendienst WhatsApp schicken sie Fotos von geschlüpften Schildkröten an die NGO, die Zahl der Eier, die sie in der Nacht gefunden haben, und informieren auch über mögliche seltsame Ereignisse am Strand. Damit das Konzept funktioniert und das Interesse anhält, sind jedoch Einnahmequellen wichtig. „Sie brauchen zumindest die Möglichkeit, täglich 1 oder 2 Euro zu verdienen“, betont Marie Djengue. Denn sonst bestehe aus der Not heraus die Gefahr, dass sie selbst Schildkröten töten, anstatt sie zu schützen.

Krabbelgruppe im Sandkasten

Bei Bienvenue Djossou und Vitus Elegbede wird es Zeit, dass die kleinen Schildkröten umziehen. Die kleinen und noch weichen Panzer sind gerade einmal gut 10 Zentimeter lang und blass-grau. Ausgewachsen messen sie bis zu 70 Zentimeter und wiegen bis zu 50 Kilogramm. Die Männer fassen sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger an und tragen sie zu einem großen Kasten, der mit Sand gefüllt ist. Hier müssen sie erst einmal das Laufen lernen.

„Eine wichtige Etappe“, sagt Elegbede, „das stärkt den Körper.“ Er schaut den Schildkröten gerne zu. „Das erinnert uns doch an unsere eigene Geburt und wie wir anfangs komplett von unserer Mutter abhängig sind und uns Stück für Stück abnabeln.“ Noch krabbeln die Schildkröten eher gemächlich über den Sand und bleiben immer wieder stehen.

In Benin ist Tierschutz oft Luxus: Umweltschützer Elegbede ist es wichtig zu helfen Foto: Katrin Gänsler

Auch wenn sie geschlüpft und ins Meer gekrabbelt sind, sind sie einer Reihe von Gefahren ausgesetzt. Größere Fische fressen sie. Vor allem ausgewachsene Schildkröten verheddern sich zudem in den Netzen der Fischer und reißen diese kaputt. Aus Wut würden diese deshalb Schildkröten auch töten, sagt Marie Djengue. Um das zu vermeiden, sei ein Kompensationsprogramm notwendig. Denn ein Fischer ohne Netz habe auch kein Einkommen mehr.

Das erinnert uns daran, wie wir anfangs komplett von unserer Mutter abhängig sind und uns Stück für Stück abnabeln

Vitus Elegbede, Éco-Garde

Den Schildkröten machen allerdings auch der Klimawandel und die daraus resultierende Küstenerosion zu schaffen, die überall am Golf von Guinea sichtbar ist. Der 1964 erbaute Hafen unterteilt den Strand von Cotonou in zwei Zonen. Westlich von ihm – durch die Zolleinannahmen werden etwa 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet – hat sich der Strand teilweise sogar verbreitert.

Feuchte Wände, verfallende Villen

Seit 2019 finden dort außerdem Aufforstungsmaßnahmen statt, bei denen Tausende Palmen gepflanzt wurden. Ihr Wurzelwerk sorgt mit den Jahren immer mehr dafür, dass der Sand durch hohe starke Wellen nicht mehr wegbricht. Die Palmen werden so zur wichtigsten Maßnahme im Küstenschutz.

Östlich des Hafens in Richtung nigerianische Grenze ist das umgekehrt. Der Abschnitt, der Djossous Schildkrötenschutzstation beheimatet, wird zusehends schmaler. Dabei war die Gegend einst ein beliebtes und schickes Wohnviertel von Cotonou und wurde Zone des Ambassades, Botschaftsgegend, genannt. Die Villen stehen zwar noch inmitten großer Gärten. Trotzdem wirkt die Gegend unbelebt, fast verlassen.

Zahlreiche Häuser, die heute dicht am Wasser stehen, sind längst zu Ruinen geworden. Die Feuchtigkeit sitzt im Mauerwerk. Einige wurden nie fertig gebaut, weil sich das nicht mehr gelohnt hätte. Heute leben darin sogenannte Squatter*innen, Menschen, die aus der Not heraus Häuser besetzen, weil sie keine Miete zahlen können.

Dass das Viertel einst viel größer war, kann man sich nicht mehr vorstellen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten sind ganze Straßenzüge weggerissen worden. Wenn es regnet und das Wasser mitunter tage- und wochenlang nicht mehr abfließen kann, haben Menschen zunehmend Schwierigkeiten, zur Arbeit zu kommen. Das Risiko, an Malaria zu erkranken, steigt. Laut einer Studie sorgten allein die Überschwemmungen im Jahr 2019 für wirtschaftliche Verluste von mehr als umgerechnet 81 Millionen Euro.

Noch ein Problem: Schutzwälle gegen Erosion

Obwohl Wis­sen­schaft­le­r*in­nen schon vor mehr als 20 Jahren vor „desaströsen Auswirkungen“ für Benins Küste warnten, passierte lange nichts. Erst 2012 ließ die Regierung des damaligen Präsidenten Bony Yayi acht Buhnen errichten. Das sind rechtwinklig von der Küste ins Meer reichende Schutzwälle aus Steinblöcken. Sie messen bis zu 300 Meter, sind 60.000 Tonnen schwer und werden im Wasser zunehmend breiter.

Ziel ist es, die Strömung zu verlangsamen, die Wellen zu brechen und somit die Sanderosion zu vermindern. Seit 2016 Patrice Talon an der Macht ist, wurden vier weitere gebaut und 150 Hektar Strand wurde wieder aufgeschüttet.

Doch die Kanten, die mitunter höher als einen Meter sind, bleiben und versperren den Schildkröten den Weg zu ihren ohnehin schon schrumpfenden Eiablageplätzen. „Ein riesiges Problem“, nennt Marie Djengue das und betont: Es muss dringend eine Lösung gefunden werden. Daran sei glücklicherweise auch die Regierung interessiert. Finde man keine, „wird es in Benin keine Schildkröten mehr geben“, lautet ihre düstere Prognose.

Das kann man sich gerade bei Bienvenue Djossou nicht vorstellen. Mittlerweile krabbelt der Nachwuchs flink durch die Sandkiste. Es wird Zeit für den nächsten Schritt. Djossou hebt die kleinen Schildkröten wieder vorsichtig an, um sie zum ersten Mal in ihrem Leben ins Wasser zu setzen. Dafür stehen eine ausrangierte Badewanne und ein Aquarium bereit. Er beobachtet die ersten Schwimmzüge und lacht: „Das Laufen durch den Sand ist sehr anstrengend gewesen. Das Schwimmen ist jedoch ganz einfach für sie.“

Das Freilassen der Meeresschildkröten ist in Benin auch eine Tou­ris­t*in­nen­at­trak­ti­on Foto: Andrea Wojtkowiak

„Machts gut, Schildkröten!“

Marie Djengue ist optimistisch, dass sich die Regierung des Schildkrötenschutzes annimmt. Der Staat habe verschiedene internationale Abkommen zum Schutz biologischer Vielfalt unterzeichnet und ratifiziert. 2004 hat die Nationalversammlung zudem ein Gesetz mit der Nummer 2002-16 verabschiedet, in dem es heißt: „Die Fauna stellt ein wesentliches Element des biologischen Erbes der Nation dar.“

Der Staat müsse die Erhaltung garantieren. Verstöße werden trotzdem kaum publik gemacht und noch seltener geahndet. Im Jahr 2017 wurde laut beninischen Medienberichten ein Mann zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe sowie zur Zahlung von knapp 2.000 Euro verurteilt, weil er Panzer von Meeresschildkröten verkauft hatte.

Bienvenue Djossou und Vitus Elegbede setzen weniger auf Abschreckung, sondern wollen Vorbild sein. Für ihre Schildkröten ist heute der große Tag gekommen. Nach der Schwimmstation setzen sie 40 Tiere in zwei große Eimer und tragen diese zum Strand. Häufig sind Tou­ris­t*in­nen dabei. Zusammen mit der kleinen Bar ist auch das eine Einnahmequelle, wenn Be­su­che­r*in­nen für das Projekt spenden.

Auch Schulklassen aus Cotonou besuchen die Éco-Gardes regelmäßig. Djossou möchte aber vor allem den Kindern im Viertel zeigen, wie wichtig der Schutz der Schildkröten ist. „Sie essen die Eier nicht mehr, sondern wollen die Schildkröten ebenfalls in die Freiheit entlassen“, erzählt er stolz über die Fortschritte.

Die Männer haben ihre Sandalen ausgezogen und sind an der Wasserkante angekommen. Sie stellen die Eimer auf dem feuchten Sand ab und setzen eine nach der anderen die Schildkröten in den Sand. Eine dreht sich auf den Rücken und hat noch Startschwierigkeiten. Die anderen sind bereits von den Wellen erfasst worden und treiben im Atlantik. Vom Strand aus sieht man sie nicht mehr. „Das ist ihr Paradies“, sagt Bienvenue Djossou und winkt ihnen nach: „Macht’s gut, Schildkröten!“

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