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Tiere des Jahres und ArtensterbenSchaut her, bitte!

Die Biodiversitätskrise hält auch nach Corona an. Ein basisdemokratischer Wahlversuch beim Tier des Jahres tappte aber prompt in die Populismusfalle.

Nicht flauschig oder super hip, aber schon auch goldig: schlüpfende Zauneidechse Foto: A. Hartl/ imago

Wer wirklich erfolgreich ist, braucht keine Auszeichnungen. Den Titel „Virus des Jahres“ für das Coronavirus gibt es entsprechend nicht. In weniger klaren Fällen müssen die Fachleute ran. Und so lässt es sich kaum eine naturkundliche Vereinigung nehmen, von der Heilpflanze (Meerrettich) bis zur Staude (Schafgarbe), vom Schmetterling (Brauner Bär) bis zur Wildbiene (Mai-Langhornbiene), vom Pilz (Grünling) bis zur Spinne (Zweihöcker-Spinnenfresser) des Jahres 2021, alle erdenklichen Bestandteile der belebten Natur auszuzeichnen.

In vielen Fällen erfährt das Publikum so nicht nur erstmals vom ausgezeichneten Organismus, sondern auch von seinen Bewunderern. Haben Sie schon mal vom Höhlen-Raubkäfer gehört oder vom Verband der deutschen Höhlen- und Karstforscher (VdHK)? Von der Gewöhnlichen Mauerflechte oder der Bryologisch-lichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa (BLAM)? Vom Kriechenden Netzblatt oder von den Arbeitskreisen Heimische Orchideen (AHO)? Jetzt schon!

Und auch, wenn Sie diese Information bereits zum Dreikönigstag wieder vergessen haben werden – ist es nicht beglückend an sich und ein beruhigendes Wissen, dass es nicht nur so viele Orchideenfächer gibt, sondern auch Orchideengesellschaften und die Orchideen selbst? Der Boom der Jahresgeschöpfe geht auf den Deutschen Bund für Vogelschutz (DBV) zurück, dem heutigen Nabu. Vor 50 Jahren kam er auf die Idee, den „Vogel des Jahres“ auszuzwitschern. Erklärtes Ziel war es, auf die Gefährdung der Art und ihrer Lebensräume hinzuweisen. Der erste bundesweite Titelträger war im Jahr 1971 der Wanderfalke.

Der ehemals weitverbreitete Hochgeschwindigkeitsjäger hatte zuvor dramatische Bestandseinbrüche erlitten. Hauptgrund waren zu dünne Eierschalen, verursacht durch den großflächigen Einsatz von DDT. Ein Skandal, der zahlreichen Greifvögeln zum Verhängnis wurde und als wichtige Initialzündung für die gesamte Umweltbewegung gilt. Tatsächlich stand der Wanderfalke damals in Deutschland kurz vor der Ausrottung. Nur rund 50 Brutpaare waren verblieben.

Der „Vogel des Jahres“ rettete den Wanderfalken

Das Verbot von DDT und weitere Naturschutzbemühungen führten zu einem deutlichen Populationsanstieg, heute gilt der Wanderfalke nicht mehr als gefährdet. Eine Erfolgsstory, an der die „Vogel des Jahres“-Aktion ihren Anteil hatte. Kein Wunder also, dass sie fortgeführt wurde und viele Nachahmer fand. Der „Vogel des Jahres“ ist bis heute immer noch eine „Tagesschau“-Meldung wert. Und auch wenn viele der anderen Auszeichnungen die breitere Öffentlichkeit kaum je erreichen, führen sie doch stets zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für die ernannten Arten.

Zum 50-jährigen Jubiläum hat der Nabu nun wieder Schlagzeilen gemacht – erstmals rief er alle Bürger*innen zu einer basisdemokratischen Wahl des Glücksvogels aus dem Kandidatenfeld aller 307 heimischen Brut- und der wichtigsten Gastvögel auf. Fast 130.000 Vogelfreund*innen machten mit – und prompt gibt es ein Populismusproblem. Denn während sich nur jeweils sechs Stimmen für Spornpieper, Rohrschwirl oder Skua erbarmten – wieso bloß hat die imposante Skua, diese so edle wie elegante Raubmöwe, keine Freunde? –, räumte ausgerechnet die Stadttaube mit 8.937 Stimmen ab und nimmt nun Platz 1 der Shortlist ein.

Die Taube ist ein Trump der Vogelwelt

Dabei handelt es sich bei ihr noch nicht mal um eine ordentliche Art, sondern lediglich um die domestizierte, also irgendwie menschgemachte Form der Felsentaube. Bedroht ist sie schon gar nicht, viel mehr wetteifern Städte darum, das lästige Federvieh zu vergrämen oder auszuhungern, was wiederum Tierschützer auf den Plan ruft. Wobei die Taube selbst im Wesentlichen durch schlechtes Benehmen auffällt, also eine Art Donald Trump der Vogelwelt darstellt, nur, dass sie ihre Wahl halt tatsächlich gewonnen hat.

Zumindest die Vorausscheidung, denn die finale Abstimmung unter den zehn Alphavögeln startet am 18. Januar, und da werden wir ja sehen, ob sich am Ende nicht doch noch die Vernünftigen, also zum Beispiel die „Goldregenpfeifer-Ultras“ um Buchpreisträger Saša Stanišić, durchsetzen und verhindern, dass die Artenschutzaktion unter Taubenkot versinkt. Im März wissen wir mehr.

Schutz für Tiger gern, für Otter ungern

Ebenfalls nicht unumstritten ist das Wildtier des Jahres 2021, der Fischotter. Ihm geht es, wie allen Beutegreifern, die es wagen, ähnliche Nahrungsvorlieben wie der Mensch zu hegen. Denn während sich die Deutschen parteiübergreifend einig darin sind, dass die Asiaten gefälligst ihre Tiger und die Afrikaner ihre Elefanten zu schützen haben, gerät hier verlässlich das halbe Land in Schnappatmung wie ein an Land gezogener Atlantischer Hering (Fisch des Jahres), wenn der Wolf sich mal ein Schaf stibitzt, der Biber unsere schöne aufgeräumte Landschaft durcheinanderbringt oder eben der Fischotter seine namensgebende Lieblingsspeise fängt.

Da bleibt den angeblich so naturliebenden Deutschen schnell eine Gräte im Hals stecken, zumal eine der wichtigsten Gefährdungsursachen für den Wassermarder der Autoverkehr darstellt, sein Schutz also die Priorisierung von Fluss vor Verkehrsfluss verlangte, und da hört der Spaß bekanntlich auf. Deshalb aber sagen wir: Recht so, Deutsche Wildtier Stiftung! Support für Lutra lutra!

Ein unkontroverser Schleimpilz

Weit weniger kontrovers dürfte die Kür des Schleimpilzes Physarum polycephalum zum Einzeller des Jahres sein. Dabei hat die Deutsche Gesellschaft für Protozoologie schon so ziemlich das Spektakulärste aufgefahren, was sie zu bieten hat, denn das, nun ja: Ding ist eine „gigantische Amöbe“, verfügt als solche sogar über eine „makroskopisch sichtbare Lebensform“ und steht im Guinnessbuch der Rekorde als größter Einzeller der Welt.

Und wenn die Protozoologie-Jury vom „flüssigen, rhythmisch in den Adern hin und her strömenden Zellplasma“ schwärmt, von den „als Myxamöben durch die Umgebung kriechenden Geschlechtszellen“ sowie der „nahezu unbegrenzten Lebenszeit“, dann fragen wir uns schon, warum wir von irgendwelchen vogeligen Zeitgenossen mit Stadttauben gelangweilt werden. Wer jedenfalls auf der Suche nach einer Art Haustier ist, das länger durchhält als jedes Meerschweinchen und trotz beachtlicher Mobilität nicht mit Gassigehen nervt – der Schleimpilz lässt sich problemlos mit Haferflocken züchten!

Zweite Chance für die gebeutelte Zauneidechse

Doch Aufmerksamkeit ist kurzlebig wie eine Dänische Eintagsfliege (Insekt des Jahres) und der Weg zum Erfolg dornig wie eine Stechpalme (Baum des Jahres). Am Ende kommen wir daher doch wieder auf das Virus des Jahres zurück. Mit seiner Omnipräsenz hat es praktisch alle anderen Nachrichten verdrängt. Die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde (DGHT) zieht daraus nun Konsequenzen und erklärt die Zauneidechse einfach zum Titelverteidiger beim „Reptil des Jahres“.

Die einstmals häufige und durch Lebensraumzerstörung, industrielle Landwirtschaft und freilaufende Katzen arg gebeutelte Eidechse hat damit nun „eine zweite Chance, um nach dem verlorenen Coronajahr erneut in den Fokus zu rücken“. Mit der Auszeichnung verbunden ist nämlich auch eine hoch angesehene Fachtagung, die 2020 aufgrund der Coronamaßnahmen ausfiel. Und dabei, wir sind sicher, gäbe es doch so viel zu berichten über das kleine Reptil. Also: Mach’s noch einmal, Zauneidechse! Auf ein besseres neues Jahr 2021, in dem der Blick dann hoffentlich wieder auf die Biodiversitätskrise gelenkt wird, die auch dann noch eine globale Bedrohung sein wird, wenn Corona längst in den Annalen verschwunden ist.

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