Thema Flucht beim 36C3 in Leipzig: Digitaler Stacheldraht

Die Europäische Union vermauert ihre Außengrenzen inzwischen auch digital. Das kritisieren flüchtlings- und netzpolitische Aktivisten.

Kleidungsstücke zum Trocknen an Stacheldraht aufgehängt

Flüchtlingslager in Griechenland, 2016 Foto: imago images/Christian Mang

Die Digitalisierung transformiert nicht nur den Alltag. Sie verändert auch Momente tiefgreifend, in denen Menschenleben am seidenen Faden hängen, Biografien verändert oder zerstört werden. Momente wie die Flucht vor Tod und Verderben. Auf dem Chaos Communication Congress 36C3 in Leipzig wird deshalb die Frage gestellt, wie Menschen im digitalen Zeitalter flüchten und wie Staaten Migration digital kontrollieren.

„Zunächst einmal ist digitale Technik ein wichtiges Werkzeug für Refugees“, so Anna Biselli, Informatikerin und netzpolitik.org-Journalistin in ihrem Vortrag am Freitag. Laut einer Umfrage der FU Berlin aus dem Jahr 2016 war für 78 Prozent der damals in Berlin lebenden syrischen Geflüchteten ein Smartphone wesentliches Hilfsmittel bei ihrer Flucht.

Großen Nutzen haben die Geräte dabei vor allem in den Bereichen Übersetzung, Routenplanung und Vernetzung, beispielsweise über Facebook-Gruppen und Websites von Hilfsorganisationen. „Über die Handys tauschen die Flüchtenden sich über die aktuelle Gefahrenlage aus und informieren sich über Gesetze in den jeweiligen Ziel- und Transitländern“, erklärt Biselli.

Auch verbänden ihre Geräte die Menschen mit ihren fernen Angehörigen: “Die Smartphones sind der Ort, an dem oft die letzten Erinnerungsstücke aufbewahrt werden, die die Geflüchteten noch haben, zum Beispiel Familienfotos.“

An der Grenze

Sobald die Refugees sich allerdings der EU nähern, gerät der digitale Wind of Change zu einem aggressiven Gegenwind. Denn zwar helfe die Technik den Flüchtenden vielfach. Diese Hilfe produziere jedoch jede Menge Daten, für die sich die Grenzbehörden der europäischen Staaten interessieren. “Wo ein Trog, da sammeln sich die Schweine“, fasst Biselli zusammen. So werten Behörden der EU bereits seit Jahren Metadaten von Flüchtlingshandys aus, um Fluchtrouten zu analysieren und zu prognostizieren. Außerdem betreibe die EU ein immenses digitales Wettrüsten an ihren Außengrenzen.

Die Sea-Watch-Aktivisten Neeske Beckmann und Nic Zemke erzählten am vergangenen Samstag auf dem Kongress von den aktuellen Bestrebungen, mit neuen technischen Mitteln die Fluchtrouten über das Mittelmeer zu versperren. Die bisherige Satellitenüberwachung der Gewässer vor Europas südlichen Küsten reicht der EU demnach nicht mehr aus. “Die Satelliten können keine permanenten Echtzeit-Bilder der Gebiete liefern, weil sie immer nur für kurze Zeit über den Grenzregionen vorüberziehen“, erklärt Zemke.

In Zukunft soll eine vernetzte Armada aus Drohnen in der Luft, an Land sowie in und unter Wasser ein lückenloses Live-Monitoring der gesamten Grenze ermöglichen. “Roborder“ hat man in Brüssel dieses Vorzeigeprojekt getauft. Für die Sea-Watch-Aktivisten sind diese Pläne Teil der “Fortress Europe“, der aggressiven Abschottung Europas gegen Flüchtende. “Wenn sie die Kapazitäten haben, die sie behaupten zu haben, dann können sie die Regionen bereits umfassend überwachen und vielen Leuten beim Sterben zusehen“, stellt Neeske Beckmann klar.

Die beiden Sea-Watch-Aktivisten prangern an, dass es bereits 2019 zahlreiche Fälle gegeben habe, in denen Frontex, die europäische Grenzschutzbehörde, Boote lokalisiert habe, ohne ihnen zu helfen. “Wir nehmen gerade viele Funkgespräche von Frontex-Operatoren auf, um nachweisen zu können, wenn sie tatenlos zusehen“, erzählt Alina. Als ein solcher Fall vor einigen Monaten in der maltesischen Meereszone auftrat, drohte Sea-Watch schließlich damit, Frontex und Maltas Küstenwache zu verklagen. Erst dann handelten die Behörden.

Am Ziel?

Wenn es ein Mensch, der aus seiner Heimat geflohen ist, trotz dieses zunehmend digitalisierten Grenzregimes bis nach Deutschland schafft, erlebt er weitere Schattenseiten des technischen Fortschritts. Europaweit können Behörden es kaum erwarten, mittels künstlicher Intelligenz die Asylverfahren zu automatisieren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gilt Anna Biselli von netzpolitik.org dabei als Musterbeispiel für einen extremen Digitalisierungsenthusiasmus.

Ungläubig schauen die hunderten Hacker im Publikum ihres Vortrags ein bizzares Online-Video, in dem das Ministerium stolz sein hippes IT-Labor präsentiert. Zwischen mit Auftragsgraffiti besprühten Wänden sollen hier Vorgänge digitalisiert werden, die drastische Auswirkungen auf das Leben tausender Asylbeantragender haben.

Bereits fächendeckend angewendet wird etwa die Handydatenauswertung zur Identitätsüberprüfung. Eine Verschärfung des Paragrafen 15 im Asylgesetz ermöglicht es den Sicherheitsbehörden seit 2017, Datenträger von Asylbewerbern auszulesen, wenn diese keinen Pass besitzen. Eine eigens entwickelte Software durchforste dabei die Smartphones und erstelle ein Datenblatt zur Einschätzung der Herkunft des Asylbeantragenden. “Schon im Gesetzgebungsprozess wurde das als verfassungswidrig kritisiert, unter anderem vom deutschen Anwaltverein“, so Biselli. Eine gerichtliche Anfechtung sei jedoch langwierig und käme für die Betroffenen zu spät.

Neben der massiven Verletzung von Grundrechten kritisiert die Informatikerin auch die Qualität der Auswertungen: “Die Hälfte der Analysen liefern unbrauchbare Resultate und nur bei 2 Prozent widersprechen die Ergebnisse der Datenauswertung der Aussage des Refugees“, berichtet Biselli. Die Auswertungspraxis missachte somit das juristische Gebot der Verhältnismäßigkeit.

Einfach mal den “Konvoi der Hoffnung“ stoppen

Auf Anfragen der Journalistin reagierte das BAMF ablehnend. Eine datenschutzrechtliche Evaluation der Handyauswertung könne man nicht publik machen, da sonst etwaige Sicherheitslücken identifiziert werden könnten. “Es ist unglaublich, dass das BAMF derart mauert, während weiterhin tausende Menschen von dieser fehlerhaften und umstrittenen Praxis betroffen sind“, so Biselli.

Anna Biselli, Informatikerin und Journalistin

„Wenn die Schufa mit intransparenten Algorithmen darüber entscheidet, wer einen Handy-Vertrag bekommt, regen wir uns auf. Aber bei den Refugees ist die Lage viel extremer“

Eine weitere digitale Praxis der Behörden ist die Social-Media-Analyse. Seit 2017 durchforstet laut Biselli das Europäische Unterstützungbüro für Asylfragen (EASO) Plattformen wie Facebook nach Stichworten und “schmuggelrelevanten Inhalten“. Als einzigen Erfolg dieser Maßnahme gab das EASO auf Bisellis Anfrage die frühe Entdeckung des “Konvois der Hoffnung“ an – eines Flüchtlingszugs, der anschließend an der griechisch-mazedonischen Grenze gewaltsam von der Polizei zurückgedrängt wurde.

“Allgemein wird beim BAMF gerade die Digitalisierung zum Zweck an sich“, urteilt Biselli. So etwa bei der Auswertung von Anhörungsprotokollen durch künstliche Intelligenz oder die Einführung von Blockchain-Speichertechnologien. Prozesse würden entmenschlicht, Grundrechte massiv beschnitten. “Wenn die Schufa mit intransparenten Algorithmen darüber entscheidet, wer einen Handy-Vertrag bekommt, regen wir uns auf. Aber bei den Refugees ist die Lage viel extremer“, bekräftigt die Informatikerin. Außerdem müsse eines klar sein: “Wenn die Technologien erst einmal da sind, werden sie ausgeweitet – auf andere Kontexte und auf andere Bevölkerungsgruppen.“

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