piwik no script img

Theatertreffen in BerlinWas bin ich ohne meinen Schmerz?

Die Neuerfindung des Ichs führt bei mehreren Stücken des Berliner Theatertreffen ins Unglück. Eines davon ist „Die Vaterlosen“ von Jette Steckel.

„Extra Life“ von der Choreografin und Regisseurin Gisèle ­Vienne gastierte im Hans-Otto-Theater in Potsdam Foto: Estelle Hanania

Eine Geschichte geht nur gut aus, wenn ich nicht darin vorkomme.“ Der Dorfschullehrer Platonow weiß, wovon er spricht, als er diesen Satz sagt. Chaos stiften, darin ist er gut, schon einen ganzen Abend lang. Jetzt gerade lässt er sich, mit gespieltem Widerwillen, von der Generalin, einer Witwe, die Kleider ausziehen.

Was bedeutet die Vergangen­heit? Das ist eine der Fragen, entlang der sich die Stücke in Beziehung setzen lassen

Kurz zuvor versprach er der Braut ihres Sohnes, um Mitternacht mit ihr von diesem Gut zu fliehen. Ein Neuer Mensch werden, ein Neues Leben beginnen, das Vergangene von sich abstreifen: Warum nur erwarten sich das alle, insbesondere die Frauen, von Platonow, dieser verkrachten Existenz, die ihr eigenes Scheitern mit narzisstischer Lust zelebriert?

Platonow ist ein Ekel in der Inszenierung der Regisseurin Jette Steckel, die mit „Die Vaterlosen“, einer Tragikomödie von Anton Tschechow aus den Kammerspielen München, zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurde. Mit boshaftem Witz streut er Salz in die Wunden der anderen, versteckt unter falschen Komplimenten.

Joachim Meyerhoff spielt diese Rolle, als seien ihm diese Sottisen gerade eingefallen, als improvisiere er auf der Bühne, gelegentlich auch Zuschauer in seine Betrachtungen über den allgemeinen Verfall einbeziehend. Und, nun ja, was soll man sagen? Man kriegt sich im Publikum im Haus der Berliner Festspiele kaum ein beim Lachen und Kichern über diesen Zyniker und seine Lust an der Beleidigung.

Hinter allem liegt Verzweiflung

An diesem Abend darf das Theater leicht und lustig sein, man weiß ja eh, dass hinter allem die Verzweiflung liegt. Ändern können müsste man sich, aber keiner schafft es. Wiebke Puls spielt die Generalin, die lebenshungrig endlich aus diesem Dorf weg will, aber ohne Beruf und als Witwe sich das nicht ohne Mann vorstellen kann. Und dabei scheint sie so schön und stark und ihre Hilfsbedürftigkeit nur ein Irrtum.

Zwar ist der Abend mit über drei Stunden etwas lang. Aber trotzdem löst er etwas ein, was man sich vom Theatertreffen erhofft: in Berlin großartige Ensembles anderer Städte zu erleben. Einen Theaterklassiker in eine Sprache übersetzt zu bekommen, die gerade erst auf der Straße aufgeschnappt worden zu sein scheint. Mit kurzen Einsprengseln von Zweifeln, was den Sinn der ganzen Unternehmung angeht.

Die Regisseurin Jette Steckel, 1982 in Berlin geboren, hat für ihre Inszenierungen schon viele Auszeichnungen bekommen. In „Die Vaterlosen“ lässt sie glänzen, was das Theater kann, und markiert auch, wo sich die Kunst selbst ein wenig in die Tasche lügt.

Das Tief-in-den-Körpern-Vergrabene

Von ganz anderer Temperatur und anderem Temperament war „Extra Life“ von der Choreografin und Regisseurin Gisèle ­Vienne, eine Koproduktion ihrer Company mit vielen Theaterhäusern und Festivals. Viennes Theater hat etwas von einem therapeutischen Experiment. Sie erforscht eigene Wege, das Nicht-Darstellbare, das Nicht-Erzählbare, das Tief-in-den-Körpern-Vergrabene ahnen zu lassen.

„Extra Life“ gastierte im Hans-Otto-Theater in Potsdam. Ein Auto steht auf der Bühne. Geschwister sitzen darin, reden nach einer Party. Anfangs ist es der Text, in dem Verletzungen der Vergangenheit aufblitzen. Erklärungen für Ausfälle und Suchtprobleme. Gab es einen übergriffigen Onkel, geht es um Missbrauch in der Kindheit?

Bruder und Schwester hören im Radio eine Geschichte über Aliens. Warum ist es leichter über Aliens zu reden, die Kinder rauben, als über die Täter in der eigenen Familie? Das macht die junge Frau wütend, sie fühlt sich alleingelassen. Das schält sich aus dem Gespräch heraus. Aber auch, wie sich über das Erlittene andere Erzählungen wie Pflaster legen, fantasievolle Ausweichmanöver.

Die Dialoge sind so etwas wie die Einflugschneise in eine Inszenierung, die dann vor allem mit Körpersprache, mit Licht und Nebel, mit unheimlichen Puppen und unheimlicher Musik von Störungen und Verschiebungen in der Wahrnehmung erzählt. Vor allem in der Wahrnehmung des Selbst. Vom Verlust von Selbstvertrauen und Selbstgewissheiten. Das hat etwas von einem Horrortrip, einem extrem verlangsamten Fall.

An den Rändern des Theaters

Die Inszenierungen von Gisèle Vienne sind zwar mit vielen Festivals verbandelt, zum Theatertreffen kam sie zum ersten Mal. Balancierend zwischen Tanz, Performance und Sprache schillern ihre Stücke an den Rändern des Theaters. Dort aber ist Vienne in der europäischen Szene gut etabliert.

Ein Fest der Lust am Spiel versprach „Riesenhaft in Mittelerde [TM] “ zu werden, eine Abschiedssause, die sich Nicolas Stemann in seiner letzten Spielzeit als Intendant am Schauspielhaus Zürich zusammen mit dem inklusiven Theater Hora aus Zürich und mit Das Helmi Puppenthea­ter (aus Berlin) geleistet hat. Cora Frost mischt auch mit.

Der Stoff beruht auf Tolkiens „Herr der Ringe“, erzählt von bekennenden Fans der Fantasy-Saga ebenso wie von Mitspielern, denen Tolkien egal ist. Es ist eine wuselige Installation, mit vielen Darstellenden, Musikern, Tieren und Ungeheuern aus Schaumstoff, großen Leinwänden, um auch zu verfolgen, was sich am anderen Ende des Raums ereignet, vielen Prozessionen durch den Raum, in dem sich Darsteller und Publikum mischen.

Allein, der Raum war in der Umsetzung in Berlin im Haus der Berliner Festspiele einfach etwas zu voll. Statt die liebevoll ausgestatteten Inseln im Bühnenbild studieren zu können, war man oft damit beschäftigt, einem Schiff voller Zwerge und Elben auszuweichen, zwischen Schultern einen Durchblick zu suchen, dem Theater nicht im Weg zu stehen.

Trotzdem machte die gemeinschaftliche Erzählung der verschiedenen Ensembles Spaß, inklusive der Erklärkunde über die Orks und die Zweifel an der Zulässigkeit der so eindeutigen Zuschreibungen des Bösen.

Gleich am Anfang ausgebremst

Was bedeutet die Vergangenheit? Das ist eine der Fragen, entlang der sich die eingeladenen Stücke in Beziehung setzen lassen. Bei Tschechow stellt sich die Suche nach dem Neuen Menschen als Bullshit heraus, geeignet allein, durch die Nichterfüllbarkeit der hohen Erwartungen sich selbst gleich am Anfang auszubremsen.

Bei Gisèle Vienne hat die Vergangenheit Traumata hinterlassen, die die Protagonisten nie bei sich selbst ankommen lassen. In „Bucket List“, einem Musical von Yael Ronen & Shlomi Shaban, mit dem die Berliner Schaubühne zum Theatertreffen eingeladen war, arbeitet eine Firma daran, den Menschen von traumatischen Erinnerungen zu befreien. Zum Beispiel von unglücklichen Lieben.

Das wird verkauft als eine Utopie. Erweist sich aber bald als eine tiefgehende Zerstörung. Wenn Trauer und Schmerz, Verluste und Kummer abgezogen werden vom Ich, bleibt dann mehr als ein seelenloser Automat, fremd und glatt?

Yael Ronens Inszenierung hat es in sich. Die Figuren lokalisieren die Geschichte zwar im Privaten; aber das Bühnenbild, in dem es immer wieder weiße Kleidungsstücke von oben regnet, suggeriert auch die Geschichte eines Kollektivs, das hinter sich einen Zug von Toten weiß.

Die Musik von Shlomi Shaban ist melodienreich, trostreich, schwungvoll; die Songtexte sind aber oft sarkastisch, bitter, ironisch. Man gleitet mit zweigleisigen Gefühlen durch diesen Abend, an dem sich sprachliche, bildliche, akustische und choreografische Informationen oft in unterschiedliche Richtungen bewegen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen