Theaterstück „Der Ursprung der Welt“: Eine Gala für die Vulva

Das Schauspiel Hannover zeigt Liv Strömquists Erfolgscomic „Der Ursprung der Welt“ als feministische Revue über verdrängte Sexualität.

Eine Szene aus dem Theaterstück, in der eine Frau über einen roten Teppich springt.

Bringen Bewegung in den Text: vier sehr unterschiedliche Frauentypen Foto: Isabel Machado Rios

HANNOVER taz | Verrückt ist es und eine menschheitsgeschichtliche Peinlichkeit, dass Frauen sich für ihr Geschlecht zu schämen haben. Also rein biologisch bereits für ihre Vulva, das Ding zwischen den Beinen, aber auch für all das, was sozial und psychologisch so dran hängt an Menstruationsfluss, Orgasmus und so weiter. Die Männerwelt ist grässlich ignorant, verklemmt und pimmelfixiert – so weit, so schlecht.

Weit finsterer aber, heißt es auf der Ballhof-Bühne in Hannover, seien Männer wie Cornflakes-Miterfinder und Arzt John Harvey Kellogg. Statt wegzugucken, hat der nämlich sehr intensiv nachgedacht über die Klitoris und was sich damit so alles anstellen lässt. Onanie, sagte er, sei Schuld an Leiden wie Krebs, Epilepsie oder Wahnsinn; eine Besessenheit, die den Frühstücksflocken-Papst auch praktisch tätig werden ließ: „Die Applikation von reiner Karbolsäure auf die Klitoris ist ein hervorragendes Mittel gegen abnorme Wallungen.“

Kellogg ist eine von vielen historischen Figuren, deren Auftritte das Stück als roter Faden durchziehen: „Männer“, warnt der Chor dann stets Jingle-artig vor“, die sich zu sehr für das interessieren, was als das weibliche Geschlechtsorgan bezeichnet wird.“

Zusammen- und bloßgestellt wurden diese Typen von der schwedischen Comic-Künstlerin Liv Strömquist in ihrem Band „Der Ursprung der Welt“ (Avant Verlag). Der hat seit seiner deutschen Veröffentlichung in 2017 ziemliche Wellen geschlagen, ist für einen feministischen Avantgardecomic erstaunlich breit besprochen worden und hat sich übrigens auch so gut verkauft, dass Strömquists frühere Bücher (etwa über die romantische Zweierbeziehung) direkt hinterher übersetzt und in andere Medien überführt wurden. Unter der Regie von Franziska Autzen jetzt eben auch für die Theaterbühne.

Beknackte Vulva-Experten

So groß wie man meinen könnte, ist der Schritt vom Comic auf die Bühne allerdings nicht. Die Texte beider Gattungen setzen klassischerweise aufs gesprochene Wort, was bei Radiomoderatorin Liv Strömquist noch mal verstärkt zum Tragen kommt. Sie schreibt nämlich noch lockerer, als die meisten sprechen können.

Auf der Bühne formen ihre Aufklärungsepisoden nun ein Infotainment-Galaprogramm: mit einem opulenten Säulenbau im Hintergrund, über dessen Treppenstufen eine Art roter Teppich in den vorderen Bühnenraum menstruiert. Vier Frauen bringen hier den Text in Bewegung, sprechen ihn emphatisch nach, moderieren einander an und unterbrechen sich gleich wieder mit Werbung, Tanz und Gesang. Immer mal wieder stülpen sie sich bärtig bedruckte Leibchen über, um kurz auch die beknackten Ansichten von Vulva-Experten wie eben Doktor Kellogg oder dem Heiligen Augustinus zu verkünden.

Dass es hier keine Sekunde langweilig wird, verdankt Franziska Autzens Inszenierung ihrer fachgerechten Zerlegung von Strömquists lyrischem Ich in vier sehr unterschiedliche Frauentypen. Alrun Hofert ist für Ironie, Verruchtes und Süffisanz zuständig, tritt im Schamlippendress als Vulva höchstpersönlich auf, die einen nachts weckt, um sich dem Kopf weiter oben in Erinnerung zu rufen.

Daneben blödelt Katherina Sattler vorsätzlich nonchalant und unterstreicht so die unfassbare Blödigkeit des patriarchalen Status quo. Lucia Kotikova erlebt derweil eine Achterbahnfahrt als Spielball der Selbstzweifel. Sie tritt an als die Normal-Naive, der unter den gesellschaftlichen Umständen nicht viel mehr bleibt, als erst durchzudrehen und dann herauszuarbeiten, wie sich mit all der verquarzten Natürlichkeit umgehen ließe: die undankbare Aufgabe so ziemlich aller Frauen, beziehungsweise Menschen, die Kotikova hinreißend intim auf der Bühne durchexerziert.

Auffällig harmonisch fügt sich als Vierte Irene Kugler ein, die immerhin 40 Jahre älter als die anderen Selbstfinderinnen ist und in traditionell-feministischer Schroffheit mit Schmackes noch mal abschließend klärt, dass es hier nicht um irgendwelche Problemchen irgendwelcher junger Frauen geht, sondern um einen menschheitsgeschichtlichen Irrsinn, der jetzt endlich auf den Müll gehört.

Wobei: Skandalös sind gerade auch die jüngeren Jahreszahlen in diesen Geschichten. Dass etwa die tatsächliche Größe der Klitoris erst um 1998 bestimmt wurde (und es bis heute in die wenigsten Biobücher geschafft hat), ist schon verrückt. Man stelle sich vor, heißt es im Stück, neulich hätte wer gemerkt, dass man sich bei der Größe der Bauspeicheldrüse um ein paar hundert Prozent vertan hat.

Erschütternd unterhaltsam

Fürs Publikum ist die dynamische Besetzung eine wahre Freude – und setzt in Sachen Deutung vielleicht auch ein finales Ausrufezeichen: Denn wenn diese vier sich einig werden können, dann sollte es doch wohl auch der Rest der Welt irgendwie hinbekommen.

Dass die schlagfertig in Stellung gebrachte Empörung neben dem Sprachwitz des Comics übrigens auch auf einer beachtlichen Rechercheleistung beruht, spielt in dieser Theaterfassung eine etwas unterbelichtete Rolle. Strömquist hat nämlich nicht nur Texte geborgen, sondern sich vor allem auch an historischem Bildmaterial abgearbeitet, wovon auf der Bühne nur wenig zu sehen ist.

„Der Ursprung der Welt“: nächste Aufführungen: So, 18. 10., Mo, 19. 10. Di, 20. 10., 19.30 Uhr, Schauspiel Hannover, Ballhof Eins

Nacherzählt werden etwa die stilisierten Menschen, die von der Nasa per Sonde ins All geschickt wurden, um sich der außerirdischen Nachbarschaft vorzustellen. Ursprünglich hatte die gezeichnete Frau einen kleinen Strich im Schritt: angedeutete Schamlippen, die vorm Abflug schnell wieder ausradiert wurden. Lustig ist die Geschichte auch im Theater, das Beweisbild im Comic ist hingegen richtiggehend erschütternd.

Man könnte darüber streiten, ob „Der Ursprung der Welt“ mit seiner gekonnten Verschachtelung aus Bild und Text im Schauspiel nun mehr gewinnt als verliert. Oder aber: Man lässt die olle Gattungsfrage beiseite und erinnert sich, dass auch die gezeichnete Bio-Nachhilfe damals kein selbstverständlicher Comicstoff war und heute trotzdem unbestreitbar zu den wichtigsten und stilbildenden Veröffentlichungen der vergangenen Jahre zählt.

Funktionieren tut’s in jedem Fall auch auf der Bühne und stiftet irgendwo zwischen Gala­revue und Lecture-Performance einen bei allem Elend noch höchst unterhaltsamen Abend – von dem man sich gerne belehren lässt.

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