Theaterstück „Das Evangelium nach Jesus“: Als Jesus Gottes Tochter war
Dass sie als Jesus spricht, hat Transaktivistin Renata Carvalho in Brasilien schwere Angriffe gebracht. Nun ist sie zu Gast in Berlin.
Wie schmal und verletzlich dieser Körper ist: Die langen Beine in den hohen Schuhen, in denen Renata Carvalho laut über die Stufen im Mittelgang stakst, auf und ab, durch das Publikum im Ballhaus Naunynstraße in Berlin Kreuzberg. Die Arme, die sie vorne, vor dem Tischaltar, immer wieder ausbreitet, wie man es aus Hunderten von Gemälden kennt, von Christus am Kreuz. Es ist eine umarmende Geste, und umarmend, alle in einer verzeihenden Liebe und Feier der Diversität umfassend, ist auch die ganze Performance von Renata Carvalho, „O Evangelho segundo Jesus, Rainha Do Céu“ (Das Evangelium nach Jesus, Himmelskönigin).
Es ist aber auch eine Geste, die den Ausschluss vorwegnimmt, das Leiden und die Kreuzigung, und auch davon handelt dieses Stück. Am Ende hört sie, wie vor der Tür am Kreuz gehämmert wird.
Glaubt ihr denn, dass die Jünger von Jesus alle Männer waren?, fragt Renata Carvalho das Publikum zu Beginn. Sie fragt auf Portugiesisch, die Übertitel sind englisch, da geht ein bisschen was verloren. Aber die großen Linien sind so klar wie die Antwort, die sie als Teil der Gemeinschaft der Jünger gibt: Einige von uns waren Männer, die früher Frauen gewesen waren, einige von uns waren Frauen, die früher Männer gewesen waren.
Teilweise Auftrittsverbote
Renata Carvalho kommt aus Brasilien, ist Schauspielerin, Transfrau und Begründerin einer brasilianischen Trans-Künstler*innen-Bewegung. In Brasilien kam „Das Evangelium nach Jesus, Himmelskönigin“ 2016 heraus und wurde seitdem über 90-mal gezeigt. Geschrieben hat es die schottische Autorin Jo Clifford, die als Junge aufwuchs und den Weg zur ihrer Frauwerdung auch über das Schauspielen fand. Regie führt Natalia Mallo, Regisseurin aus Argentinien. Im Ballhaus Naunynstraße ist ihre Inszenierung das erste Mal in Europa zu sehen.
Brasilien ist ein tendenziell homophobes Land, Transmenschen und LGTB-Aktivisten werden mit Hass und Diffamierung verfolgt. Vor einem Jahr wurde die linke Stadträtin Mariella Franco, die sich auch in der LGTB-Bewegung starkmachte, ermordet, ein schwuler Politiker wurde mit Mord bedroht. Renata Carvalho hat bei Touren mit diesem Stück immer wieder Angriffe religiöser und politischer Gruppen, denen es auch gelang, Vorstellungen in einigen brasilianischen Bundesstaaten verbieten zu lassen, erfahren. Das Wissen davon schiebt sich unter den Text, der viel von Ausschlüssen und Verfolgung erzählt. Aber alle Episoden beruhen auf biblischen Erzählungen.
Die Rückkehr der verlorenen Tochter
Im Ballhaus Naunynstraße kämpft Renata Carvalho ein wenig mit der Trägheit des Publikums, das, wenig bibelfest und auch nicht sonderlich kirchenerfahren, etwas zäh in die Rolle der antwortenden und die Kommunion erwartenden Gemeinde findet.
Sie spricht als Jesus zu uns, Tochter Gottes, und erzählt die Geschichte von der verlorenen Tochter, die zuerst verstoßen wird, weil sie kein Sohn mehr sein wollte, dann aber bei ihrer Rückkehr von Herzen willkommen geheißen wird, erkannt als ein Mensch, der sein ganz eigenes Licht strahlen lässt und ohne Selbstverleugnung zu sich gefunden hat.
Sie erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter als Großstadtepisode: Ein Bischof und ein Polizist fahren vorbei an dem Bündel Mensch, das hilfebedürftig auf der Straße liegt. Sie denken verächtlich „noch so ein Junkie“. Erst die Königin, die aus der Rosenbar kommt, das Kleid zerrissen, betrunken, erfahren im Umgang mit Gewalt, hilft.
Alltagstauglichkeit biblischer Szenen
Der Text von Jo Clifford hat viele Episoden der Bibel, die um Barmherzigkeit, Großzügigkeit und Vergebung kreisen, nicht nur für die Perspektive von Frauen und Transfrauen umgeschrieben, sondern vor allem auch alltagstauglich gemacht, in knappen Skizzen auf gegenwärtige soziale Situationen leicht beziehbar. Es macht Spaß, diesen Verknüpfungen zu folgen, biblische Erzählung und christliche Botschaft wiederzuerkennen in den Schieflagen der gegenwärtigen Existenz. Das hat auch etwas von Bibelkunde mit schottischem Understatement. So wie die Autorin, die am Ende mit auf der Bühne steht und liebevolle Grüße ausrichtet, von Schottland an Europa.
Als Erzählerin hat Renata Carvalho ein Wunschbild von ihrem Publikum, sie versucht uns in den Zustand von Kindern zurückzuversetzen, die sie als unschuldig und unvoreingenommen imaginiert. Während die Erwachsenen schon immer in der Misere der Vorurteile hocken. Ihre Bühnenfigur braucht diese Fiktion, um so zu uns reden zu können, wie sie redet, mit der Hoffnung auf Veränderung, mit einer Mission. Und doch wissen alle, dass dies nur das Spiel ist.
Was an der Performance überrascht, ist ihre unverbrüchliche Liebe zu christlichen Ritualen, ihre Sehnsucht nach Aufgehobensein in der Gemeinde der Verzeihenden. Die Institution Kirche und ihre Geschichte, oder die religiösen Eiferer, die Renata Carvalho auch jetzt verfolgen, fließen da nur als bittere Fußnoten ein.