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Theatermoderne im Ohnsorg-TheaterJünger, weiblicher, digital

Das Hamburger Ohnsorg-Theater lässt die jahrzehntelange Lustspiel-Ära hinter sich und versucht, die multikulturell-urbane Heimat neu zu entdecken.

Hamburger Heimatliteratur: 2016 lief am Ohnsorg-Theater eine Theaterfassung des Fatih Akin-Films „Soul Kitchen“ – auf Platt Foto: dpa

Ein in der Türkei geborener Oberspielleiter, Publikumsbefragungen per Touchpad, ein radikal vom Plüsch befreies Foyer, Uraufführungen zu aktuellen Themen, nackte Tatsachen, aber auch Geflüchtete auf der Bühne, Hoch- und Niederdeutsch im Dialog: Das Ohnsorg-Theater ist angekommen in der Theatermoderne.

Von den lange gegebenen Bauern- und Fischerschwänken verabschiedete sich das einstige Plattdeutsch-Museum nach und nach schon in der 22-jährigen Intendanz Christan Seelers. Im vergangenen Jahr übernahm der Kulturmanager Michael Lang, 19 Jahre verantwortlich für die Boulevardbühne „Winterhuder Fährhaus“, den Ohnsorg-Job – mit der Maßgabe, nun endgültig „einen deutlichen Schritt der Modernisierung“ zu gestalten.

Gefordert habe das die damalige Kultursenatorin Barbara Kisseler, sagt Lang: Der Hamburger Retro-Bühne sollte es nicht ergehen wie dem im März 2018 dann aus wirtschaftlichen Gründen geschlossenen, ebenfalls regionalsprachlichen Millowitsch-Theater in Köln.

Denn das traditionell orientierte, lustspielverwöhnte Ü70-Stammpublikum stirbt mit seiner Abonnement-Treue langsam aus. In den Jahrgängen darunter sinke die Kompetenz fürs Plattdeutsche rapide, so Lang. Muttersprachlich lebendig sei es vornehmlich in ländlichen Regionen. Gerade in St. Georg, wo das Ohnsorg-Theater seit 2011 am frisch so benannten Heidi-Kabel-Platz residiert, gleich neben dem Hauptbahnhof: Da ist Hamburg weiß Gott keine platt snackende, sondern multilinguale Metropole.

Unterkühlt statt rustikal

Das Foyer verströmt im schwarz-weiß-roten Edeldesign einen unterkühlten Lounge-Charme. Auf Langs Betreiben wird daran auch bei den Bühnenbildern angeknüpft: Es gibt Abstriche am Naturalismus-Plüsch, um tiefere, offenere, dezent abstrahierte Spielräume zu schaffen.

Um Heimat geht es immer noch, aber eine, die multikulturell-urban neu zu entdecken sein soll. Stücke, egal welcher Herkunft werden mit Hamburg-Anspielungen lokalisiert oder auch in die Küstenländer verlegt. Dazu werden auch aktuelle Themen angepackt: Migration, Geschlechterrollen, Gewalt in der Ehe, aber auch Sexmangel und Einsamkeit im Alter.

Um ein junges Publikum ans Niederdeutsche heranzuführen, aber auch aus klar dramaturgischen Gründen, setzt Lang verstärkt auf zweisprachige Inszenierungen. Programmatisch wurde das in der letzten Saison mit der Familienfehde zwischen den Capulets und Montagues in „Romeo un Julia“.

Zuschauerzuspruch unter den Erwartungen

Im Zirkusmilieu traf dort ein Platt snackender auf einen Hochdeutsch sprechenden Artisten-Clan – und Romeo als hanseatisch verdruckster Pausenclown auf die freche Trapezkünstlerin Julia, die ihren koreanischen Migrationshintergrund deutlich betonte, aber astreines Hochdeutsch sprach: „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche. Ihr Ruf drang an dein Ohr, erschreckte dich.“ – Romeo: „Dat weer de Leerk un nich de Nachtigall. De Nacht maakt nun de Lichter ut.“

Der Zuschauerzuspruch blieb unter den Erwartungen. „Viele dachten, das ist ein Klassiker, sei also nicht lustig“, erzählt Lang. „Andere wussten, darin wird gestorben und mit dem Thema wollen sie im Theater nicht konfrontiert werden.“

Regie führte Murat Yeginer, 1960 als Einjähriger aus der Türkei nach Deutschland gekommen, der sich in Hamburg zum Schauspieler ausbilden ließ und seinen ersten Stückvertrag bei Ida Ehre an den Kammerspielen unterschrieb. 2008 bis 2015 war er Schauspieldirektor am Theater Pforzheim, er hat auch in Oldenburg gearbeitet. Seit dieser Spielzeit ist er Oberspielleiter bei Ohnsorg.

Künstlerisch hochwertig: „Buten vör de Döör“

Die seit Langem beste Produktion des Hauses ist „Buten vör de Döör“, richtig: nach Wolfgang Borchert, das am 5. November Wiederaufnahme feiert: Dann kommt Soldat Beckmann (Holger Dexne) erneut ins zerstörte Nachkriegshamburg, wo sich die traumatisierten Stimmen in seinem Kopf op Platt artikulieren. Was sein Fremdsein verstärkt, versuchen doch alle anderen Figuren mit im klaren Hochdeutsch Normalität zu simulieren.

In dieser beeindruckenden Inszenierung wirkt Beckmanns Duktus nie freundlich verniedlichend, wie Niederdeutsch ja oft wahrgenommen wird. Der Dialekt verleiht der Hauptfigur mit seiner unmittelbaren Schroffheit vielmehr eine verzweifelte Einsamkeit, umtönt von einem leise weinenden Soundtrack, den die Schauspieler nebenher weben.

Dazu gönnt Regisseur Ingo Putz Hauptdarsteller Dexne sogar den Ausbruch aus seiner trostlosen Rolle im stimmungsschwarzen Szenario unterm gottlosen Himmel: Er lässt ihn das Stück hinterfragen, nach Auswegen suchen – um dann umso nachdrücklicher seine Figur ans ausweglose Ziel zu bringen.

Erfolgreich: „Plattdüütsch för Anfängers“

Es war bisher wohl die Aufführung, die den „deutlichen Schritt der Modernisierung“ am mutigsten geht. Um das fortzusetzen – sowie zunehmend junge Darsteller als feste Gäste oder fest ins zehnköpfige Ensemble engagieren zu können –, ist das Ohnsorg auch Ausbildungsbetrieb: Jeden Montag treffen sich 20- bis 30-jährige Mimen bei Peter Nissen zum Platt-Coaching. Erstmals gibt es in dieser Saison neben dem Jugend- noch einen Kinder- sowie einen Generationenklub: Der entwickelt ein Stück aus biografischen Texten.

Dass in Langs erster Saison die Hälfte des Abendspielplans bilingual ausgerichtet war, sollte praktische Hilfe für Ohnsorg-Novizen sein. Es sorgte aber auch für Kündigungen bei den Dauerkunden: Langs Vorgänger hatte 6.345 Abonennten, in der vergangenen Saison waren es noch 5.766.

Zugleich war aber Lang zufolge die Produktion mit dem höchsten Hochdeutsch-Anteil die erfolgreichste: Die heutig mit dem Typenpersonal eines Bauernschwanks spielende, für Langs Konzept geradezu programmatische Komödie „Plattdüütsch för Anfängers“ kam auf stolze 80 Prozent Auslastung, weil der Freiverkauf überdurchschnittlich angestiegen sei, in den zwei Drittel aller Tickets gehen.

Finanziell steht das Haus gut da

Finanziell steht das Haus weiterhin gut da, obwohl der Zuschauerrückgang anhielt – von mehr als 140.000 (2015/16) auf etwa 135.000 (2016/17) und zuletzt 128.000 (2017/18). Durch Eintrittskartenverkauf, Gastspiele und TV-Aufzeichnungen kommen etwa 4,5 Millionen Euro in die Kasse, als Subventionen fließen 2,24 Millionen.

Damit das so bleibt, also das Publikum, soll es nun mit Smileys auf Fragen antworten wie „Hest du dat Plattdüütsch in dat Stück hüüt goot verstahn?“ – oder sogar ganze Sätze schreiben: „Wullt du uns anners noch wat seggen? Wi freit uns över en poor Wöör vun di!“

Die entsprechende digitale Zuschauerbefragung findet seit Kurzem an drei Touchpad-Terminals im Foyer statt. So geht Marktforschung im Jahr 2018.

Jelinek op Platt?

Und was geht noch am Ohnsorg? Zur Ergänzung der seichten Boulevardstoffe hatte Lang schon im Stadtteil Winterhude das kleine Theater Kontraste für zeitgenössische Dramatik eröffnet und dort etwa Dea Lohers „Am schwarzen See“ spielen lassen. Etabliert er nun Pollesch oder Jelinek op Platt als modernes Volkstheater? „Nein, wir wollen zurück zu den Wurzeln und wie in Hans Mahlers und Richard Ohnsorgs Zeiten ein Uraufführungstheater werden, indem wir junge Autoren aufbauen.“

Den Anfang machen in der aktuellen Saison Sönke Andresen mit „De verdüvelte Glückskeks“, Thema: Zerstörung regionaler Identität durch Tourismusgroßprojekte, und Janne Mommsen mit „Butter bi de Fisch“, ein Text über Single-Not in Zeiten von Dating-Agenturen.

Insgesamt wirkt Langs zweiter Spielplan weniger forsch als der erste. Eine künstlerisch ähnlich anspruchsvolle Produktion wie „Buten vör de Döör“ ist nicht vorgesehen, ein bilinguales Klassenzimmerstück allerdings kommt. Wie viel Hochdeutsch möglich und notwendig sei, entscheide man bei jeder Produktion erst kurzfristig.

Klassiker der hamburgnahen Heimatliteratur

Statt auf Klassiker der Weltliteratur setzt er verstärkt auf Klassiker der hamburgnahen Heimatliteratur. Ende September bringt Yeginer Siegfried Lenz’ „Mann im Strom“ auf die Bühne, bis auf eine Nebenfigur sprechen alle Platt.

Auch weiblicher soll die Zukunft werden: Die Hälfte der Regiejobs geht derzeit an Frauen. Und zur Saisoneröffnung wurden gleich noch Gastschauspielerinnen engagiert – um so freizügig zu agieren wie noch nie: In der Adaption des Films „Kalender Girls“ wollen reifere Landfrauen für den guten Zweck einen Pin-up-Kalender herausgeben, denn „nakig Fleesch verköfft sik goot“. Und schmeißen dazu zwar Bekleidung ab, wissen ihre Brüste aber mit Händen, Federfächer, Rosinenschnecken oder Cupcakes zu bedecken.

Denn: „Nackte auf der Bühne“, sagt Lang, „das kann man im Ohnsorg nicht machen.“ Weder platt- noch hochdeutsch.

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