Theatergeschichte mit „Drei Schwestern“: Irritierende Störgeräusche
Mit Tschechows „Drei Schwestern“ wollte das Berliner Gorki-Theater in die eigene Geschichte tauchen. Doch das Experiment ging gehörig schief.
Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, dass ein deutscher Theaterregisseur nicht viel mit deutscher (Theater-)Geschichte anzufangen weiß. Nur: Warum gibt er sich die Blöße, das bei einer Jubiläumsinszenierung so deutlich auszustellen?
Das Maxim Gorki Theater in Berlin feiert im Oktober sein 70-jähriges Bestehen und möchte, zumindest punktuell, in die Geschichte des Hauses blicken. Ein überwältigender Erfolg des Ostberliner Theaters war in DDR-Zeiten Thomas Langhoffs Inszenierung des Tschechow-Dramas „Drei Schwestern“. 1979 feierte sie Premiere und wurde bis 1993 ganze 157 Mal gespielt. 1984 kam die Verfilmung der Inszenierung ins DDR-Fernsehen, auch hier führte Langhoff Regie.
Bis heute ist die unbedingte Sehnsucht nach Freiheit von den Zwängen der DDR diesem Film unausgesprochen eingeschrieben – ein eindrückliches Beispiel, wie die Kunst ihren Gegenstand ohne sichtbare Aktualisierung politisch auflädt, wie das Theater zum Ort des subversiven Widerstands wird.
Nun ist ausgerechnet der Pop-Regisseur Christian Weise angetreten, diese Inszenierung neu zu betrachten. Weises krachledernen Slapstick mögen manche lustig finden, für dramaturgische Tiefenbohrungen ist er nicht bekannt. Zuletzt hat er Corinna Harfouch als „Queen Lear“ im Darth-Vader-Look durchs All geschickt, weil er Shakespeares „King Lear“ als „frauenfeindlich“ missverstanden hatte.
Welche Freiheit wird heute ersehnt?
Jetzt also Tschechow und Langhoff. Was hätte es nicht alles auszuloten gegeben. Die Frage nach der politisch aufgeladenen Kunst von heute etwa, die im deutschen Theater ja fast ausschließlich als Aktivismus daherkommt. Oder die Frage nach dem „Moskau“ unserer Tage – welche Freiheit wird heute ersehnt? Was lehrt uns die Geschichte? Was lehrt Langhoffs Inszenierung, die neue Spielformen probieren wollte, in denen sich die damalige Zeit spiegelt?
Man hätte sich auch vorstellen können, dass Schätze aus dem Theaterarchiv dazu beigetragen haben, sich für eine Neubetrachtung dieser Inszenierung zu entscheiden, die Volker Braun am selben Theater dann legendär mit seiner „Übergangsgesellschaft“ fortschrieb, aber: nada.
Weise begnügt sich damit, den Film mit einem sechsköpfigen Ensemble zu „reenacten“, also Wort für Wort nachzusprechen und nachzuspielen, was auf den Fernsehern am Bühnenrand der kleinen Studio-Bühne abspult. Dass es sich um ein reines Männer-Ensemble handelt, tut nichts zur Sache – kann man doch unter den Masken und Perücken ohnehin kaum einen Schauspieler erkennen.
Technisch ist es bewundernswert, wie präzise die Schauspieler die Texte und Gesten mit dem Rücken zum Fernsehbild imitieren. Doch einen Mehrwert hat das nicht. Denn die Schauspieler treten hier nicht als denkende und fühlende Menschen einer anderen Zeit auf, die sich mit der Historie des Films, mit der Geschichte der DDR oder des Theaters auseinandersetzen, sondern als Kaulquappen in grünen Catsuits, jeder Individualität beraubt, die den Text herunterrattern. Oder so pathetisch aufladen, dass man es für eine Parodie halten kann. Manchmal sogar muss. Am Ende treten sie in futuristischen Kostümen auf. Das soll wohl in die Zukunft weisen.
Weil sich dieses sinnfreie Reenactment schnell verbraucht, greift Weise in die Unterhaltungstrickkiste: Da stockt dann das Filmband, sodass Worte vier- oder fünfmal geloopt werden. Der Live-Musiker am Keyboard wechselt zu Synthie-Pop, zu dem die Schauspieler einzelne Zeilen singen. Was da gesagt oder gesungen wird – völlig egal.
Zeitzeugen auf Nörglerinnen reduziert
Bis irgendwann Interviews über die Fernseher flimmern – ebenfalls mitgesprochen von den Spielern, was sich als irritierendes Störgeräusch erweist. Der verstorbene Thomas Langhoff darf da erklären, dass er Tschechow für einen Revolutionär des Theaters hält – nicht aber, warum. Ursula Werner, die damals „Mascha“ spielte, erzählt eine Gastspielanekdote und schließt, dass es „kaum eine Verbesserung zu nennen“ ist, „wohin uns die Geschichte bis jetzt geführt hat“.
Und Ruth Reinicke, als Schwägerin „Natascha“ besetzt, endet damit, dass „die Menschen sich immer wieder alles verbauen“. Ihre enttäuschte Hoffnung schließt einer der Spieler dann mal eben mit den Revolutionen im Mittleren Osten kurz. Iran oder DDR, ist ja irgendwie alles eins.
Die unangenehmste Szene ereignet sich beim Applaus. Da deutet der Regisseur ins Publikum – ein Zeichen dafür, dass ein an der Produktion beteiligter Mensch bitte auf die Bühne kommen möge. Doch die beiden Damen, die gemeint sind, kommen nicht. Und sie klatschen so spärlich, dass es gerade noch als höflich durchgehen kann.
Erst als die Intendantin Shermin Langhoff von ihrem Platz in der ersten Reihe die beiden Frauen bittet, sich wenigstens zu erheben, tun sie es. Da stehen sie für eine Sekunde: Ruth Reinicke, 40 Jahre Schauspielerin am Gorki Theater – und Monika Lennartz, ebenfalls viele Jahre hier engagiert und die „Olga“ in Langhoffs Inszenierung.
Man kann Reinicke und Lennartz natürlich nicht in den Kopf gucken, doch ihre verhaltene Reaktion wirkt verständlich. Nicht nur, weil der Abend so unsensibel geschichtsvergessen daherkommt. Sondern weil er die Schauspielerinnen in den Interview-Schnipseln auf rückwärtsgewandte „Früher war alles besser“-Nörglerinnen reduziert, was ihnen nicht gerecht wird.
Am 29. Oktober soll es nach der Aufführung anlässlich des Jubiläums ein Gespräch mit Mitwirkenden der Langhoff-Inszenierung geben. Spannender als die Aufführung könnte das allemal werden.
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