Theater und Fußball: Rote Löwen sollen leben

Das Fußballdrama „The Red Lion“ des englischen Autors Patrick Marber zeigt, wie es hinter den Kulissen eines Provinzklubs zugeht.

Eine Szene aus dem Theaterstück

Die Kabine, die die Welt bedeutet: Jordan, Yates und Kidd zeigen alles, was den Fußball liebens- und hassenswert macht Foto: National Theatre / Catherine Ashmore

LONDON taz | Mit solch zärtlicher Hingabe hat wohl noch kein Zeugmeister Fußballhemden gebügelt: Der alte, massige Yates, gespielt von Peter Wight, streichelt die knallroten Trikots des FC Red Lion, verpasst ihnen einen kleinen Wasserspritzer und wedelt dann das heiße Dampfbügeleisen so sacht und liebevoll über den Stoff, als würde er seine Geliebte mit Streicheleinheiten verwöhnen.

Wir sind in der Umkleide eines viertklassigen Provinzklubs; das minimalistische Bühnenbild von Anthony Ward zeigt ein schlichtes Ambiente mit Heizstrahler, einfacher Massagepritsche, Linoleumfußboden, Holzbänken und Nirosta-Spüle – hier hat alles seine Blütezeit schon in den sechziger Jahren überschritten. Yates hängt die Hemden penibel auf Drahtbügel und dann auf die Haken über den Holzbänken.

Dann hat der kleine quirlige Dampfplauderer und Trainer Kidd, gespielt von Daniel Mays, hinter der Bühne sein Duschen beendet und seinen großen Auftritt im weißen Bademantel, während er eine SMS auf seinem Smartphone checkt und die Hand aufhält, in die Yates ihm den Schrankschlüssel legt. Kidd geht zum kleinen Fenster über der Spüle, blickt nach draußen und nörgelt sofort über den umgepflügten Rasen, der eher einem Acker ähnelt und vom Platzwart vernachlässigt wird.

Aus dem Dialog der beiden über die Situation des maroden Vereins wird klar: Yates und Kidd sind Antipoden und hassen sich mit Hingabe. Yates ist die Inkarnation eines Idealisten, der die unbezahlte Arbeit der Vereinshelfer würdigt, während der kühle Kidd von allen Effizienz und maximalen Einsatz fordert, ohne die Arbeit der Freiwilligen je anzuerkennen. Aber er muss hier erst mal über die Runden kommen, weil er selbst auf der harten Auswechselbank des Lebens hockt: Ohne Geld, ohne Bleibe, von der Frau getrennt und im Scheidungsverfahren.

Power Play im Dorfman Theatre

Für Yates, den romantischen Schwärmer, der als Trainer erfolglos war und sich nun als Zeugwart durchschlagen muss, ist Fußball Lebensinhalt, der Verein Familienersatz. „Red or dead“ ist sein Motto: Ohne den Verein bricht seine Welt zusammen. Das vielversprechende neu entdeckte Jungtalent Jordan (von Calvin Demba als eine Art junger, schüchterner Ballack gespielt), von dem er genauso wie Kidd Wunder erwartet, soll dem Klub zu neuer Strahlkraft verhelfen. In ihn projizieren beide ihre Erfolgsfantasien, er soll ihrer Pleitenserie endlich ein Ende bereiten.

Man kann den Dramatiker Marber einen Verklärer des Fußballs nennen. Aber ihm geht es darum, zurückzufinden zum einfachen Spiel ohne Tricks und Täuschungsmanöver.

So wird aus dieser Dreierkonstellation auch ein Kampf um Anerkennung, Sympathie und um die Werte, die den Fußball korrumpieren. Der verunsicherte, unerfahrene Jordan kann sich nicht entscheiden, welchem „Lager“ er sich anschließen soll: dem flinken Macher und Verheißer Kidd, der immer irgendwelche Deals in Arbeit hat, aus denen doch nichts wird? Oder dem gutmütigen Yates, der ihn am liebsten adoptieren würde?

Es ist schon faszinierend und begeisternd, Patrick Marbers rasantes, in einer martialischen Kampfszene explodierendes Power Play im Dorfman Theatre mit 800 Plätzen zu erleben, wo das Stück Anfang Juni Premiere hatte und noch bis Ende September auf dem Spielplan steht.

Wie im Stadion spielt das Publikum alle gesellschaftlichen Schichten wider: jüngere Fans, auch etliche Frauen darunter, Banker aus der City, die ihre ledernen Aktentaschen lässig unterm Sitz verstauen, ältere Knaben, die vielleicht auch mal im Provinzfußball aktiv waren und von einer Beckham-Karriere träumten.

Four-Letter-Words are fucking welcome!

Patrick Marber, ein ehemaliger Standup-Comedian, hat in Oxford englische Literatur studiert, komische Nummern für Radiosendungen fabriziert, die Beziehungskiste über Cyber-Sex „Close“ geschrieben und sich während einer längeren Schreibblockade dazu überreden lassen, ein (schließlich abgelehntes) Drehbuch für „Fifty Shades of Grey“ zu schreiben.

Er hat es also in diesen Tempel bürgerlicher Hochkultur geschafft; aber diese E-und U-Kategorien sind im englischen Kulturbetrieb ja eh längst überholt: Was zählen soll, muss spannend und originell sein, muss packende, realistische Dialoge (Four-Letter-Words are fucking welcome!) und faszinierende Figuren vorweisen können. Kurz gesagt: Es muss das haben, was Marber in „Red Lion“ so eindrucksvoll zur Entfaltung bringt.

Nicht nur renditegierige Spielerberater sind euphorisch, auch für englische Vereinsmanager war der Beginn der neuen Premier-League-Saison ein Fest: Die Millionendeals für Spielerverkäufe werden immer aberwitziger. Nach der lukrativen Neugestaltung der TV-Live-Übertragungsrechte für Sky und British Telecom in Höhe von 2,5 Milliarden Euro pro Saison verfügt die Premier League in der Saison 2015/16 über dreimal so viel Geld verfügen wie die Deutsche Fußball-Liga.

Was Marber auf der Bühne zeigt, findet sich auch in der Literatur: Autoren wie David Peace (“Red or Dead“, „The Damned United“) haben ihre Solidarität mit einer Art basisverbundenem Fußballsozialismus thematisiert: Den erfolgreichen Liverpool-Trainer Bill Shankley zeigte er zwar als gnadenlosen, aber sympathischen Perfektionisten, der nachts am Küchentisch stundenlang mit Messer und Gabel neue Mannschaftsformationen zusammenschob und für die Fans immer ein offenes Ohr hatte.

Düsterste Rassismus- und Gewaltfacetten

Und der in Verona lebende Tim Parks zog ein Jahr lang mit den ausgeflippten Fans von Hellas Verona zu allen Auswärtsspielen, um die Seele des Spiels und des Vereins in allen, auch den düstersten Rassismus- und Gewaltfacetten, kennenzulernen. Sein packender Bericht „A Season with Verona“ liefert zwar etliche albtraumhafte Impressionen, die eher an Dantes Vorhölle erinnern, sie sind aber extrem intensiv und illustrieren, dass das beautiful game auch hässliche Seiten hat.

Nick Hornby, Autor von „Fever Pitch“ und glühender Arsenal-Anhänger (“Hoffentlich sterbe ich nicht mitten in der Saison“), der das Dasein in der Fankurve sowieso für faszinierender hält als das „normale Leben, darf man ebenfalls getrost zu dieser bodenständigen Gruppierung zählen. Das Studium in Cambridge wirkte auf ihn steril und künstlich; viele Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Trauerfeiern ließ er einfach ausfallen, wenn Arsenal spielte – kein Wunder, dass Dutzende von Beziehungen deshalb in die Brüche gingen.

Der ebenso brillante wie vielseitige 50-jährige Patrick Marber ist eigentlich auch Arsenal-Fan, er entdeckte dann aber während seiner Zeit in Sussex den kleinen, vom Konkurs bedrohten FC Lewes, in dem sein Sohn einen Förderkurs absolvierte. Diesen Verein mit familiären Strukturen fand er sofort sympathisch. Da Marber auch zu den Puristen gehört, die gegen die Pervertierung des Sports durch das Diktat millionenschwerer Plutokraten sind, entschloss er sich, an einer Rettungsaktion von Anteilseignern teilzunehmen und dem Verein mit einer Aktie im Wert 1.000 Pfund das Überleben zu sichern. Auf der Liste der inzwischen 200 Klubaktionäre wird er an zweiter Stelle geführt.

Man kann Marber sicher als Romantiker und Verklärer des beautiful game bezeichnen, was ihm jedoch völlig egal ist. Ihm geht es darum, vom aufgeblähten Geldmaschinensystem zurückzufinden zu einfachen Tugenden, zum fairen Spiel ohne Tricks und Täuschungsmanöver. Die Frage ist nur: Ist so eine Einstellung dem harten Geschäft angemessen und realistisch oder nur eine naive Romantisierung idealisierter Fantasien?

Bestechlichkeit, Schummelei und Täuschungsmanöver

Wenn also in „The Red Lion“ erbitterte Diskussionen darüber geführt werden, ob der alte Zeugwart Yates dem talentierten, mittellosen Nachwuchskicker Jordan auch mal 30 Pfund zustecken darf, dann mutet das angesichts der Millionentransfers in der ersten Liga und vor dem Hintergrund der Fifa-Korruptionsaffäre ziemlich antiquiert oder weltfremd an. Andererseits geht es in diesem Dreipersonenstück um die Kardinalfrage, wo Bestechlichkeit, Schummelei und Täuschungsmanöver überhaupt anfangen und welche Absichten die drei Fußballer hier verfolgen: Darf man, wie Kidd es verlangt, den Schiri auch bei berechtigten Entscheidungen mit aggressiven Protestsprüchen anmachen?

Für Kidd stellt Fußball als vielversprechende Projektionsfläche und Hoffnungsträger einen Weg zu einer neuen, schöneren Welt dar. Der Talentspotter, Spielerberater und Coach will mit Hilfe des jungen Talents Jordan endlich aus seiner Scheidungs- und Finanzmisere herauskommen.

Auch für den alten Zeugwart Yates, der im Klub sowohl Familienersatz als auch einen sinnvollen Lebensmittelpunkt sieht, kreisen alle Hoffnungen um den Jungen, der obendrein noch die alten Tugenden propagiert und sich nicht vom Tanz ums goldene Kalb korrumpieren lässt.

Da Yates und Kidd vom jungen Jordan bestätigt und anerkannt werden wollen und auch um ihn buhlen, eskaliert ihr Streit, bei dem es auch um Jordans Vertrag geht: Kidd drängt Jordan zur Unterschrift, weil er dann mit der lukrativen Vermittlung an andere Vereine beginnen kann. Yates ist dagegen, Jordan ist völlig verunsichert und versucht auch, seine Knieverletzung zu verbergen, was nicht gelingt und zum großen Showdown führt.

Schon in seinem Pokerdrama „Dealer’s Choice“ von 1995 ging es Marber darum, was die sechsköpfige Pokerrunde im Keller des Restaurants wirklich umtreibt: der Nervenkitzel? Das Kompensieren eigener Defizite? Der Protest des Sohns gegen väterliche Bevormundung? Das Ausleben eines latenten Größenwahns?

Wunschträume und Visionen

In „Red Lion“ will Marbel die Wertfrage vor dem Hintergrund des millionenschweren Fußballbusiness neu stellen und sondieren, ob in diesem Mikrokosmos eines dritt- oder viertklassigen englischen Provinzklubs ethische Normen überhaupt noch eine Rolle spielen.

„Ich baue keine Schwalben, um Elfmeter zu schinden“, protestiert das Jungtalent Jordan energisch, als Manager/Trainer Kidd ihm erklärt, für eine erfolgreiche Fußballkarriere wäre es unabdingbar, auch mal zum Sturzflug mit Schwalbeneinlage abzuheben und überhaupt möglichst aggressiv auf den Putz zu hauen. Als Jordan das entschieden ablehnt, höhnt der quirlige Kidd: „Wir sind hier doch nicht in der Kirche.“ Aber für den verunsicherten, vom Vater mit dem Baseballschläger verprügelten Jungen, der sich allein neu orientieren muss, ist Fußball tatsächlich eine Art Religionsersatz. Was in diesem knallharten Geschäft, wie das tragische Ende zeigt, ebenso deplatziert ist wie der naive Glaube an die guten Absichten von Karrierehelfern, Spielerberatern oder anderen Ranschmeißern.

Wunschträume und Visionen, so lautet Marbers desillusionierendes Fazit, müssen in diesem profanen renditefixierten Umfeld auf der Strecke bleiben. Die ebenso packende und anrührende Inszenierung tendiert zwar gelegentlich dazu, ins Melodramatische abzudriften, konterkariert dies jedoch mit auflockernden komischen Effekten. Eine faszinierende, über zwei Stunden dauernde Performance mit großartigen Schauspielern – was will man mehr, während in der Premiere League die ersten Spieltage abgehalten werden.

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