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Theater im Ballhaus PrinzenalleeIm Panoptikum der Gewalt

Es ist Sommer und auf den Feldern um Stammheim stinkt der Kohl. Hinter den Mauern Gudrun Ensslin. In den „Ensslin-Fragmenten“ kämpft sie weiter.

Die Zelle von Gudrun Ensslin im Hochsicherheitstrakt der Strafvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim Foto: Sacharchiv Aufsicht/picture alliance

In der Mitte steht ein Podest mit der Fläche einer Gefängniszelle. Es ist von allen Seiten einsehbar, ein Panoptikum, darum herum das Publikum. Auf der Bühne kauert eine verhüllte Figur auf einem Hocker. Diagonal gegenüber von ihr schwebt an einem leuchtend roten Seil ein Eisblock. Etwas ist darin eingeschlossen, aber die Oberflächen sind beschlagen, man kann es nicht erkennen. Es tropft und das Stück beginnt.

Eine Stunde lang schlägt Susanne Jansen als alleinige Protagonistin der „Ensslin-Fragmente“ die Zuschauenden wortgewaltig in Bann. Sie ist ein US-amerikanischer GI, ist Gudrun Ensslin, Ensslins Friseurin. Sie wird zur unangenehm mütterlichen Gefängnisaufseherin, zur ordnungsliebenden Hamburger Verkäuferin, zu Ulrike Meinhof. Sie wird der Pilot, der sich freiwillig für den Gefangenentransport meldet.

Jansen fügt in teils atemberaubendem Tempo Textstücke aneinander, lässt singend die Atmosphäre der 68er Jahre entstehen, springt mühelos zwischen Jahrzehnten und verlangsamt die drängende Eskalation ein ums andere Mal, bis die Spannung kaum mehr auszuhalten ist. Stets hält sie die Ambivalenz aufrecht, bezieht zugleich Position, berichtet, ohne zu belehren, und klagt an. Das Stück basiert auf Stephanie Barts Roman „Erzählungen zur Sache“ von 2023.

Die Inszenierung verlangt dem Publikum einiges ab

Regisseurin Friederike Drews lässt im Ballhaus Prinzenallee die Geschichte von Ensslin aufleben, die sich als junge Frau in den 60ern im Kampf gegen den westlichen Imperialismus radikalisiert und Teil der RAF (Rote Armee Fraktion) wird. Mit Meinhof und Baader begeht sie Mordanschläge, wird in Hamburg verhaftet und wegen Terrorismus angeklagt. Nach fünf Jahren Haft nimmt sie sich 1977 im Alter von 37 Jahren das Leben.

Die Inszenierung wagt große Bögen und mutet den Zu­schaue­r:in­nen zu, im Wechselspiel der Perspektiven den Überblick zu verlieren: Die Bombe, die 1972 vor dem US-Amerikanischen Kasino alles in ihrem Umfeld zerfetzt, steht gleichwertig neben Eva, die in den Apfel beißt und ihn mit Adam teilt, während sich die Gefängnis-Friseurin um Ensslins Kopfhaut sorgt und über die Intelligenz von Schweinen nachdenkt. Im Auge des Sturms steht Ensslins Kampfgeist. Zornig bündelt sie die Perspektiven und fragt: „Warum teilen wir nicht, statt zu tauschen?“

Die Zuschauer werden zu Überwachenden: Susanne Jansen in der Rolle der Gudrun Ensslin – und allen anderen Foto: Dominik Maringer

Das Stück inszeniert ein schier unerträgliches Kräftemessen: Was heißt es für die Gefangenen, dass die BRD sie – nur 26 Jahre nach dem Ende der mörderischen Diktatur des Nationalsozialismus – offiziell nicht töten darf? Dass ihre Körper im Hungerstreik zur Waffe werden können, weil die junge Demokratie nur bestehen kann, wenn sie sie tilgt und zugleich durch Zwangsernährung lebendig hält? Dass der Staat gleichzeitig die imperialistische, tödliche Gewalt gegen andere Körper unsichtbar halten muss?

Die Stimmen, denen Jansen ihren Körper leiht, verweisen auf das, was der Staat von sich abspaltet: Im Kongo schuften und sterben Menschen in Minen, damit die BRD eine Industrienation sein kann. „Auch Schwangere und Kinder“, wiederholt der Text. Wie hohl der Satz klingt, wie phrasenhaft, sagt mehr über die Hörenden aus als über dessen Wahrheitsgehalt. Auch das Publikum wechselt rasant die Rollen: Als ohnmächtige Mitgefangene muss es zusehen, wie eine der ihren von einem Wärter verprügelt wird.

Wie hohl der Satz klingt, wie phrasenhaft, sagt mehr über die Hörenden aus als über dessen Wahrheitsgehalt

Wird zum Richter Prinzing, der erst nach 85 Anträgen wegen Befangenheit zurücktritt. Wird zur schalldichten Zelle, die die Isolierte lautlos in den Wahnsinn treibt. Wird zu stinkenden Kohlköpfen, die in der sommerlichen Hitze auf den Feldern um Stammheim gedeihen. Der schwebende Eisblock tropft, seine Seiten klaren langsam auf. Das rote Seil bildet eine riesige Galgenschlinge. Mit eingefroren ist das Maschinengewehr aus dem Logo der RAF.

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