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Thank You for the Music

Vor zwanzig Jahren haben sie aufgehört, gemeinsam Musik zu machen – und ihre Fans begannen zu trauern: Abba forever. Das Hamburger Musical „Mamma Mia!“ huldigt den Fab Four aus Schweden. Notizen über Annafrid, Benny, Björn und Agnetha

von JAN FEDDERSEN

The Name of the Game. Wäre ein Musical mit den Liedern von Queen, Bachmann-Turner-Overdrive, Kraftwerk oder Genesis, von Silver Convention, Roxy Music oder Slade denkbar? Solide Hitlieferanten und die Popmusik der Siebzigerjahre eher mehr als weniger prägend. Sehr unwahrscheinlich. Alles Oldies geworden, Nostalgieprodukte, Erinnerungsmaterial.

Seltsam und wahr zugleich: Die Musik einer Gruppe hat ebenso überlebt wie die Beatles, und wie jene, die Rede ist von Abba, gibt es sie nicht mehr – auch wenn sie noch alle am Leben sind. Seit zwanzig Jahren ist kein Lied von ihnen erschienen, das nicht spätestens 1981 produziert worden wäre. Lichtjahre her, gemessen an der ästhetischen Wechselgeschwindigkeit, das dem Geschäft mit Tonspuren zum sofortigen Gebrauch innewohnt.

Jedenfalls zählen die Greatest-Hits-Alben genannter Bands nicht gerade zu den Chartgaranten. Respekt vor den hinterlegten Tonspuren. Aber Liebe? Mit Abba und ihren Songs ist immer noch Geld zu machen, fast mehr als zu ihren künstlerischen Lebtagen. Eine DVD mit den bekanntesten Hits der zwei Frauen und zwei Männer brachte es kürzlich glatt zur Nummer eins. Selbst die remasterten LPs im CD-Format werden im siebenstelligen Auflagenbereich, und zwar erfolgreich, auf den Markt gebracht. Der Name des Spiels hieß: „Musik für die Herzen von Teenagern“. Das Kürzel: Pop.

Everybody screamed, when I kissed the teacher. Es muss Gründe geben, weshalb die Musik jener Gruppe, die wohl erst durch die Präsentation der dunkelhaarigen Frida (Annafrid) und der blonden Agnetha zur Projektionsfläche von Sehnsüchten und Träumen wurden, immer noch frisch wirkt. Ihr internationaler Ruhm begann im April 1974, als sie den Grand Prix Eurovision gewannen. In der Heimat hatten sie einige Erfolge, probierten es auch mit einigen Songs auf Deutsch. Alle vier hatten solistisch manches geschafft, aber niemand von ihnen brachte es bis in die Beletage des Popgeschäfts. „Waterloo“ war der Titel an jenem verregneten Abend in Brighton, und es war gewiss nicht ihr bester, aber womöglich der einzige, mit dem die Jurys dieses Wettbewerbs zu gewinnen waren.

Ästhetische Kompromisse machten sie auf der Bühne keine. Weder trugen die beiden Frauen ein für den Event jener Jahre typisches Abendkleid. Noch zogen sich die beiden Männer hinter ihren Instrumenten gedeckte Textilien an, auf dass kein Mensch zwischen Portugal und Jugoslawien erschrecke. Nein, sie zeigten Outfits, die, wahlweise, von den einen als kreischendfarbiger Müll, von anderen als unglaublich anbiederische Kostümierung für ein Kasperletheater erkannt wurde.

In Wirklichkeit lebte Abba an jenem Abend die eigene Teenagerbefindlichkeit aus – laut, kreischig, ausprobierend bis an die Grenze des zulässigen Geschmacks – und über sie hinaus. Ein „Waterloo“, so meinten Kritiker, zumal für einen Kontinent wie den europäischen, der solche Produkte hervorbringt – und sie auch noch gewinnen lässt. Und dann diese Plateauschuhe! Björn und Benny trugen sie in der silberlackierten Variante. Als liefen sie auf Stelzen, auf monströsen Brikettkopien, stöckelten sie fast graziös auf die Bühne. Agnetha und Frida standen ihnen in nichts nach: Die eine in einem marineblauen Glitzerdress, in das sie eingenäht werden musste, die andere in einem folklorehaften Fummel, der auch kaum bequemer aussah. So und nur so konnten sie überhaupt gewinnen: brav in den Posen, entschieden modern in allen Stilfragen.

Und wenn man die Siebzigerjahre rekonstruieren will, die Lebensgefühle, die ersten Anzeichen eines Kontinents in Unruhe, um den Schriftsteller und Abbalandsmann Henning Mankell zu zitieren, dann muss man Abbafilme ansehen, ihre Auftritte goutieren und die Texte sezieren, die allesamt, außer eben „Waterloo“, jeden Songschreiber, jede Songschreiberin mit qualitativen Ansprüchen neidisch machen müssen. Es war weniger entscheidend, dass die Zeile, wonach jeder schrie, als sie den Lehrer küsste – wichtiger war, dass Abba (in diesem Fall die blonde Agnetha, die als Identifikationsobjekt von den meisten der dunklen Frida vorgezogen wurde) glaubwürdig wirkte: Sie schienen sehr genau zu wissen und selbst durchlitten zu haben, was die heimlichen Gedanken während einer Schulstunde sind.

One man, one woman, two friends and two true lovers. Da präsentierte sich eine Gruppe als zwei Ehepaare und vier Einzelpersonen zugleich. Jeder und jede hatte eine Geschichte, eine brachte ein Kind in die Abbazeit mit ein. Vier Einzelgeschichten – die sich nicht mit der insgesamt zehnjährigen Gruppenhistorie auf einen Nenner bringen lassen mussten. Sie waren als Familie und Freunde erkennbar – und die Abbas sagten es auch: „Wir arbeiten zusammen. Und wir verstehen uns gut.“

Ein gutes Jahrzehnt zuvor lernte die deutsche Jugend Familie noch wie Trappfamilie buchstabieren: Alles für die Familie – und der steht ein Vater vor. Abba bot andere Rollenmuster, das Quartett bot das Bild einer Idee von nächsten Verwandtschaften, die es noch gar nicht gab: Patchworkfamilie.

Abba, das war die Band für die noch nicht Zwanzigjährigen, die mit ihr selbst älter wurden, die mit „Waterloo“ (Liebessturm um jeden Preis, Triumphgefühle) und „Dancing Queen“ (Verführungskunst, Genuss am eigenen Körper) die Pubertät durchlebten und mit „The Way Old Friends Do“ (was bleibt nach der Beziehung – Freundschaft etwa?) und „Kassandra“ (die tückische Rivalin und die Einsicht in die Verhältnisse) die ersten Liebeswunden bestritten – und insgesamt durch Abba einen ganzen weltanschaulichen, besser: sozialdemokratischen Kosmos beschert bekamen, Dritte-Welt-Solidarität inklusive, siehe „Chiquitita“.

In jenen Jahren begann das, was die Konservativen aller Länder weder begreifen noch verstehen wollen, bis heute nicht: Die Familie schuf sich neu, es sollte ein Projekt aus Freiwilligkeit sein und keines aus Konvention.

Michael Kunze weiß zu erzählen, was Abba eben auch war. Zwei Familien, die durch die gemeinsame Arbeit keine Luft mehr für das Private hatte. Der Mann muss es wissen, er kennt sie alle vier seit den Siebzigerjahren. Damals hat der Autor Texte für Schlager geschrieben, für Gitte und Peter Maffay, heute lebt er erfolgreich vom Musical. Für die Hamburger Show – die im englischsprachigen Original vor zwei Jahren in London Premiere hatte – übertrug er insgesamt 28 Abbatexte nahezu sinnidentisch ins Deutsche und machte beispielsweise aus „I Have A Dream“ die singbare Zeile „Mich trägt ein Traum“.

„Das war doch nicht nur ein schönes Leben für die vier“, sagt er, „die Männer, stundenlang im Studio“, Tage mit geringster Frischluftberührung. Familienleben – ein leeres Wort. Nicht selten tüftelten Andersson und Ulvaeus des Nachts an Melodie und Text, schob ihr begnadeter Arrangeur Michael Tretow die Knöpfe und Regler am Mischpult. Oft mussten Fältskog und Lyngstad nochmals ran, weil eben die eine oder andere Stimmlage noch nicht perfekt klang, noch zu gefällig, zu spitz, zu verhalten, zu disharmonisch.

Perfektion im Sound: Die sollte unbedingt erzielt werden: Abba – ein eingebranntes Markenzeichen, so identifizierbar wie Coca-Cola oder McDonalds. Die Mühe lohnte, und zwar hörbar. Keine zwei Sekunden ist ein Abbasong angelaufen, ehe er schon wiedererkannt wird: Nie klingt es wie ein Oldie.

Aber darüber gingen die Beziehungen der beiden Paare auseinander. Waren Frida und Benny schon immer etwas wohltemperierter in den gegenseitigen Ansprüchen, wollte Agnetha 1979 nicht mehr auf Tour gehen und lieber sich in Stockholm um die Kinder kümmern. Die Männerwelt, die Jungsspiele, die ewigen Beweise, dass sie es besser können als andere, diese Welt war nicht mehr die der Frauen.

Frida fühlte sich ohnehin ständig zurückgesetzt – sie habe, so fasste es mal der britische Popjournalist Andrew Oldham zusammen, gewiss die bessere Stimme, könne geschmeidiger tanzen, nachhaltiger um die Häuser ziehen, aber Agnetha, alles in allem, habe nun einmal den „viel knackigeren Arsch“: Was als Maßstab der Traumindustrie zu nehmen ist und sich Tag für Tag in der Autogrammpost niederschlug: fast alles für die Blonde.

Und die Fans filterten die privaten Details und erkannten die eigenen Verhältnisse darin wieder. Papa will anderes als Mama. Wege trennen sich, die von Abba drei Jahre vor der offiziellen Scheidung als Act. Michael Kunze attestiert der Gruppe das Beste: „Sie waren genial. Es war einfach und gut. Und wenn man genau hingehört hat, konnte jeder Profi spüren, dass da wahnsinnig viel Tüftelei dahinter steckte.“

Der Preis der Plackerei fand sich auf den Plattenhüllen dokumentiert. Lächelten die vier noch Mitte der Siebzigerjahre für Coverfotos, so wirkten sie nun, vor allem auf dem letzten Album „The Visitors“, müde, erschöpft. Sie scheinen alle in verschiedene Richtungen zu gehen – und niemand von ihnen scheint sich drüber zu freuen. Abba, typisch neufamiliär, das öffentlich sichtbare Scheidungsdesaster.

Heute gibt Björn Ulvaeus der Bunten zu Protokoll, er könne sich an Agnethas Lidschattenfarbe nicht mehr erinnern. Da soll Freundschaft gewachsen sein? Aus Liebe wuchs Distanz. Die beiden Männer kümmern sich um gemeinsame Projekte – und werden doch im Musicalfach nie Andrew Lloyd Webber übertrumpfen. Frida lebt mal in der Schweiz, mal in Schweden und kümmert sich um karitative Fragen, Königin Silvia an ihrer Seite. Agnetha lebt auf ihrem Anwesen im schicken Lidingö vor Stockholm und kann vielleicht immer noch nicht begreifen, dass kein Prinz sie auf einem weißen Schimmel irgendwohin bringen wird. Interviews? Nie.

Dance, while the music still goes on. Zwei Wochen vor der offiziellen Premiere guckt Benny Andersson, der bärtige der beiden Abbamänner, in Hamburg nach dem Rechten. Eigentlich sollte Björn Ulvaeus vorbeischauen, aber der geschäftlich versiertere der beiden war erkältet und wollte lieber in Stockholm bleiben. Andersson war der Rummel am Abend der Preview, zu der überwiegend Mitglieder von Abbafanklubs eingeladen waren, sichtlich zu viel. Er lebt vor den Toren Stockholms, kümmert sich um Folkmusikprojekte, hasste schon früher Promotermine und mag sie heute umso weniger, wenn sie im Ausland nötig sind. „Ich habe nichts mit diesem Musical zu tun, nur die Musik habe ich mitgeschrieben.“

Er sieht etwas füllig aus, was ja aber passt, weil auch die Idealeltern namens Abba irgendwie älter werden müssen, sonst könnten es ja keine Eltern sein. Auf die Frage der NDR-Reporterin Bettina Tietjen, wie er es denn schaffe, so ruhig zu leben, sagte Andersson: „Wir haben keine Bild-Zeitung. Keine Paparazzi.“ Man lasse sie alle vier in Ruhe. „Es wird respektiert, dass wir nicht mehr zusammen sind.“

Was wiederum nur die halbe Wahrheit ist. Am Anfang ihrer Karriere, als „Waterloo“ aus Jukeboxes schon entfernt und „Dancing Queen“ noch am Mischpult behandelt wurde, rümpfte halb Schweden die Nase über die vier Musiker. „Das wirft ein schlechtes Bild auf das Image von Schweden im Ausland“, hieß es Dagens Nyheter. Das war für diese bildungspusselige Nation zu viel. Aber auch in Schweden gewann Abba das Votum an den Kassen: Goldene Schallplatten in gros erhielten sie auch in ihrer Heimat. Man ließ sie nicht in Ruhe – und fiel stattdessen über sie her. Freundschaft wurde erst nach dem Tod der Gruppe geschlossen.

Angebote im dreistelligen Millionenbereich, ein Revival zu probieren, lehnte vor allem Benny Andersson stets ab. Schwedischen Reportern von Svenska Dagbladet sagte er einmal: „Wir haben die Zeit hinter uns. Es war schwer genug, uns im Guten zu trennen. Wir haben zusammen keine Zukunft.“

Und eben das passt manchen Fans nicht, den Millionen, die in Filme wie „Muriels Hochzeit“ oder „Priscilla – Königin der Wüste“ auch deshalb gingen, weil in ihnen der Beweis erbracht wird, dass das Leben mit guter Popmusik wie der von Abba leichter und schöner, auf jeden Fall würdevoller zu ertragen ist. Und die Stage Holding, der deutsche Musicalkonzern, hat das Londoner Singspiel in Lizenz genommen, um auch in Deutschland die schmerz- und lustvolle Trauerarbeit der seit zwanzig Jahren währenden Trennung der vier Männer und Frauen (rentierlich) zu bedienen.

Bis zum Sommer kommenden Jahres laufen die Künstlerverträge. Aber schon hunderttausend Kartenvorbestellungen liegen vor, obwohl bekannt ist, dass im Stück selbst kein einziges Mal die Chiffre Abba auch nur erwähnt wird. Die Story handelt vielmehr von einer Zwanzigjährigen, die heiraten will, aber ihren Vater nicht kennt, weil ihre Mutter dessen Namen nicht herausrückt. In einer Nacht auf einer griechischen Insel, Ende der Siebzigerjahre, als Abba sich gerade, textlich gesehen, auf Esoterisches verlegten, wurde sie gezeugt. Ein Produkt, sozusagen, einer freakigen Nacht irgendwo auf einer griechischen Insel zwischen Athen und Rhodos.

Ein alternatives, ja feministisch grundiertes Familienschicksal wird also erzählt, und das passt zu Abba wie kein anderer Stoff: Wie geht man mit den Folgen moderner Liebesverwerfungen um, die mit den Mitteln der Kleinbürgerlichkeit – sprich nicht drüber! – ungelöst blieben?

On and on and on, keep on rockin’, ’til the night is gone. Doch gibt es überhaupt Lösungen für diese Dinge? Was ist aus den Hoffnungen geworden, das Familiäre ganz hinter sich zu lassen, ein ganz und gar anderes Leben zu probieren, ein ganzheitliches? Was ist Freundschaft, wie verlässlich sind Wahlverwandtschaften? Abbas haben es immer offen gelassen, vage Andeutungen nur von ihnen. Ihr Erbe nur ein Satz, tröstlich gemeint: Der Weg ist das Ziel, on and on and on ...

JAN FEDDERSEN, 45, taz.mag-Redakteur, mag die Abbasongs „Dance“ (1974), „Ring Ring“ (1973), „If It Wasn‘t For The Nights“ (1979) und „Happy New Year“ (1981) am liebsten.

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