Terrorismus in Tunesien: Per Dschihad-Route nach Hause
Der Frust der Jugend Tunesiens ist heute ähnlich groß wie vor dem Arabischen Frühling. Statt in Syrien kämpft der Dschihadist jetzt im eigenen Land.
TUNIS taz | Mohammed verschwand über Nacht, im Sommer vor zwei Jahren. Nach Tagen des Bangens klingelte das Handy seines Vaters Taoufik Soussi. Auf dem Display: eine türkische Nummer. In der Leitung: Mohammed. „Ich kämpfe jetzt für die Befreiung Palästinas und gegen Baschar al-Assad“, sagte er ruhig. Mutter solle sich keine Sorgen machen.
Der pensionierte tunesische Offizier Taoufik Soussi wirkt gefasst, wenn er über den letzten Kontakt zu seinem Sohn spricht. Bis heute weiß er nicht, wie der 25-Jährige zu einem Dschihadisten und Kämpfer der Al-Nusra-Brigaden in Syrien werden konnte. Hatte er doch seinem Sohn ein Jahr zuvor einen gut bezahlten Posten in Tunesiens Armee organisiert.
Nach den gemeinsamen Moscheebesuchen war Mohammed häufig mit Freunden an den Strand des Vororts La Marsa gefahren. Ein ganz normaler Junge eben, sagt der Vater mit in die Ferne gerichtetem starren Blick. „Wir sind keine Islamisten“, betont Taoufik Soussi immer wieder. Eine seiner Töchter studiert Mikrobiologie, die andere ist Englischprofessorin. Aber Mohammed wurde in den Monaten vor seinem Verschwinden stiller und distanzierte sich von seiner Freundin und von Freunden.
Mehr als 3.000 junge Männer aus Tunesien haben den gleichen Weg wie Mohammed gewählt. In Hinterhofmoscheen, Sportclubs oder im Internet wurden sie für den Traum eines Freiheitskampfs angeworben; oft von Gleichaltrigen. Dass viele junge Tunesier besser ausgebildet sind als Jugendliche in anderen arabischen Ländern, macht sie für den IS (Islamischen Staat) besonders interessant. An der Technischen Universität von Tunis, der École Normale Supérieure im Stadtteil Tourbet El Bey, werden Ingenieure und Softwarespezialisten gezielt angesprochen. Im syrischen Raqqa oder in Mossul im Irak erwarten sie gut bezahlte Jobs, die Reisekosten übernimmt das Netzwerk.
Sammeltaxi nach Libyen
Mit sieben Gleichgesinnten hatte Mohammed Soussi in Tunis ein Sammeltaxi bestiegen, organisiert von einer Moschee in der Nachbarschaft. Das Taxi brachte die Gruppe bis zum Grenzübergang Ras Ajdir nach Libyen. Auf der libyschen Seite wartete der Pick-up einer Miliz aus Sabrata, damit gelangten sie in die Hauptstadt Tripolis. Dann ging es weiter mit Libyan Airlines nach Istanbul und schließlich über die grüne Grenze nach Syrien: die „Dschihad-Route“.
Taoufik Soussi hat den Weg seines Sohns mit Hilfe des Imams der Elmanar-Moschee nahe der Universität recherchiert, von wo aus so viele junge tunesische Männer in den Krieg geschickt werden. „Weiterhelfen wollte oder konnte er mir nicht“, sagt Soussi, „doch irgendwann werden sich diese Leute dafür verantworten müssen, dass sie meinen Sohn auf dem Gewissen haben.“
Die Imame liefern den ideologischen Überbau, mit ausgewählten Hadithen (das sind Worte und Handlungen des Propheten), aus denen sie die finale Schlacht des Islam herauslesen. Vor der Abreise der Männer werden Reisevorschuss und Tickets konspirativ in Wohnungen übergeben, Adressen und Telefonnummern in Libyen schweigend auf Papier ausgetauscht, denn die tunesische Polizei hört Telefone ab.
Es sind die gleichen Polizisten, die schon unter Diktator Ben Ali den religiösen Widerstand in Zaum hielten. Damals verschwanden Islamisten zu Tausenden in Gefängnissen. Aus dieser Zeit der Unterdrückung zieht Tunesiens große islamistische Partei Ennahda von Rachid Ghannouchi ihre Legitimation.
Alibifotos aus Istanbul
Heute sind es Rückkehrer aus Syrien, die hinter Gittern landen. Imen Triki ist empört: Ein türkischer Stempel im Pass eines jungen Tunesiern bedeutet bei Ankunft am Flughafen von Tunis den direkten Weg ins Gefängnis, sagt die Rechtsanwältin, die Syrien-Rückkehrer vertritt. Mehr als 500 Tunesier hätten sich entschlossen, aus dem syrischen Krieg wieder zurückzukommen. Viele speichern daher Fotos von Sehenswürdigkeiten in Istanbul auf ihrem Handy. Denn wem nachgewiesen wird, gekämpft zu haben, der muss mit mindestens einem Jahr Gefängnis rechnen.
Man solle den traumatisierten Rückkehrern lieber eine Psychotherapie anbieten, empört sich Triki. Im Frühjahr wird sie vor Gericht Houssem Hosni verteidigen, ein junger Soldat aus dem heruntergekommenen Vorort Tadama. Er sitzt ohne Verfahren seit einem Dreivierteljahr ein. „Die Polizei wendet weiterhin die Hanging-Chicken-Methode an“, berichtet die Anwältin. „Man wird mit Händen und Füßen and eine waagerechte Stange gebunden und geschlagen, bis man alles gesteht, was die Folterer hören wollen.“
Rechtsanwältin Imen Triki sympathisiert offen mit Ennahda. Zusammen mit Marwan Jedah setzt sie sich für ordentliche Gerichtsverfahren für Islamisten ein. Jedah ist ein junger Salafist, für den Ennahda viel zu weich ist. Einen islamischen Staat hält er für das bessere Modell des Zusammenlebens. Die Methoden der Polizei sind für ihn der Hauptgrund dafür, dass „mindestens 50.000“ Tunesier für den IS kämpfen wollen, wie er behauptet. Er lässt ein YouTube-Video laufen: Ein junger Mann wird angeblich nur aufgrund seines Barts von der Straße weg verhaftet. „Tahrhood“, Tyrann, nennen die jungen Salafisten die oft martialisch auftretenden Uniformierten.
Ein 88-jähriger Präsident
Mit dem Sieg der Liberalen von Nidaa Tounes bei den Wahlen von 2014 sei der Polizeistaat wieder zurückgekehrt, so Jedah. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage, wieso ausgerechnet das weltoffene Tunesien, nach der recht friedlichen „Jasminrevolution“ vom Januar 2011 das einzige übriggebliebene Erfolgsmodell des Arabischen Frühlings, zum Hort radikaler Gruppen geworden ist.
Selbst in der Hauptstadt ist das vielen unerklärlich. Aber in den stets vollen Cafés auf der Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis antworten viele auf die Frage nach der Lage im Land mit einer Zahl: 88 – das Alter des neuen Staatspräsidenten Beji Caid Essebsi.
„Ich habe ihn sogar gewählt, aber nur, weil er das kleinere Übel ist“, sagt Mohamed Ayadi, ein 25-jähriger Student der Wirtschaftswissenschaft. „Essebsi war schon 1964 Innenminister. Vor vier Jahren sind die unter 30-Jährigen auf die Straße gegangen. Aber jetzt sind sie nicht einmal im Parlament vertreten, anders als die Islamisten und Ben Alis alte Machtelite.“
Am 17. Dezember 2010 war es wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, die den jungen Studenten Mohamed Bouazizi dazu trieb, sich im ebenso armen Ort Sidi Bouzid anzuzünden. Sein selbstmörderischer Protest, dem sich schließlich junge Leute im ganzen Land anschlossen, galt auch den täglichen Drangsalierungen durch die korrupte und brutale Polizei.
30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit
Und heute? Am 18. März 2015 waren es zwei tunesische Jugendliche, die mitten in Tunis 25 Menschen töteten. Mittlerweile hat sich der IS dazu bekannt. Auf einschlägigen Twitter- und Facebook-Seiten der Dschihadisten liefern ihre professionellen PR-Spezialisten die Namen der Täter und Einzelheiten zum Ablauf. Yasin al-Obaydi und Saber al-Kashnawi hätten Touristen ins Visier genommen, da sie aus „Kreuzfahrerstaaten“ kämen, heißt es. Weitere Taten würden folgen.
Die beiden unscheinbaren jungen Männer stammen aus der Region Chambi an der algerischen Grenze, wo sich die tunesische Polizei seit Jahren mit in den einsamen Wäldern versteckten Extremistengruppen einen Guerillakrieg liefert. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt hier bei weit über 30 Prozent, der Monatslohn kaum über 250 Euro.
„Die Werber der unter Diktator Ben Ali unterdrückten religiösen Extremisten haben in den unterentwickelten Regionen genauso wie an den Universitäten von Tunis ein gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut“, erklärt Ehmedi Naifar, Professor an der Sitouna-Universität in Tunis.
Für Naifar kam die Attacke nicht überraschend. „Nach dem historischen Kompromiss der moderaten Islamisten von Ennahda mit der ehemaligen Elite in der Nidaa-Tounes-Partei scheint Tunesien auf dem richtigen Kurs zu sein. Doch im Leben der meisten jungen Männer hat sich seit 2011 nicht viel geändert.“
Tunesische Medien berichten, dass die Attentäter nach mehrwöchigem Training aus Libyen nach Tunis zurückgekehrt seien.
Exoffizier Taoufik Soussi, dessen Sohn Mohammed im Sommer vor zwei Jahren verschwand, erhielt im Juni letzten Jahres einen zweiten Anruf aus Syrien. Ein Freund seines Sohns sagte: „Dein Sohn ist jetzt Märtyrer. Du kannst stolz auf ihn sein.“ Bei einem Raketenangriff auf ein Lager der Al-Nusra-Front wurde Mohammed schwer verletzt. Er starb in einem türkischen Krankenhaus, beerdigt wurde er irgendwo in Syrien.
Die Männer vom Islamischen Staat sind Bestien, oder? Unsere Autorin berichtet seit vier Jahren aus Syrien und sieht das anders. Warum, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./22. März 2015. Außerdem: Manche Impfgegner bezweifeln, dass es Masern überhaupt gibt. Wir haben einige der schärfsten Kritiker besucht. Und: Martin Walser wird 88 Jahre alt. Ein großer Romancier, bei uns mal ganz knapp und präzise im Gespräch. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die Dschihad-Route führt nicht mehr nach Syrien. Der Dschihad in Tunesien habe nun begonnen, verkünden die Webseiten der Extremisten.
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