Tauchen: Unterwegs in dunklen Tiefen
An Sommerwochenenden erkunden mehr als 1.000 Taucher die Unterwasserwelt des 60 Meter tiefen Kreidesees im niedersächsischen Hemmoor. Dabei kommen regelmäßig Taucher zu Tode.
Am Ufer des karibikblauen Kreidesees blickt ein Vater unruhig auf die leicht gewellte Wasseroberfläche. Längst hat die Sonne die letzten Wölkchen vom Firmament geschmolzen. Aus dem See ragen die Baumkronen eines unter Wasser gelegenen Waldes.
Es ist still - für den Vater etwas zu still. Sein Sohn ist gerade auf einem "Schnuppertauchgang" mit einem Tauchlehrer im Wasser. Zuletzt gesehen hat er sie vor einer halben Stunde. "Eigentlich müssten sie jetzt hinten bei der Roten Boje sein", er zeigt auf einen Plastikkanister der 30 Meter vor dem Ufer im Wasser liegt, "aber da sind keine Blasen."
Wenn ein Taucher im Kreidesee verschwindet sind die aufsteigenden Bläschen das einzige Signal, dass ihn mit der Außenwelt verbindet. In den vergangenen elf Jahren kam es zu neun tödlichen Tauchunfällen. Der See ist bis zu 60 Meter tief und sehr kalt. In den dunklen Tiefen des Sees herrschen nur wenige Grad über Null.
Der Kreidesee von Hemmoor ist eine ehemalige Kreidegrube, in der bis 1976 noch Kreide abgebaut wurde.
Seit 1986 wird im Kreidesee getaucht.
Interessant für Taucher ist die große Tiefe des Sees mit 60 Metern und die bizarre Unterwasserwelt: Es gibt Bäume, ehemalige Bergwerksanlagen und diverse Wracks zu sehen.
In den letzten Jahren kam es wiederholt zu mitunter tödlichen Tauchunfällen. Anspruchsvoll wird das Tauchen im Kreidesee aufgrund der Tiefe und der niedrigen Wassertemperatur.
"Ach, da kommen sie", ruft der Vater. Schlagartig weicht der besorgte Blick aus seinem Gesicht, jetzt gilt es das Ferienerlebnis zu dokumentieren. Der Mittvierziger knippst Bildserien von den herannahenden Bläschen.
Zwei in Neopren verpackte Köpfe tauchen auf. Behäbig waten der Schüler und sein Lehrer aus dem Wasser. "Und wie war's?", fragt Tauchlehrer Stephan Gildehaus seinen Debütanten. "Einfach nur geil", antwortet der 17-Jährige.
Gildehaus taucht seit 1984 und ist einer der Tauchlehrer, die in der Tauchbasis am Kreidesee tätig sind. Er ist ein stämmiger Mann. Es ist nahezu furchteinflößend, wenn er roboterartig, mit der Gasflasche auf dem Rücken und den vielen Schläuchen, Schnallen und Messinstrumenten an seinem Körper, tropfend aus dem Wasser stapft. Am Schultergurt hängt eine Trillerpfeife, darüber ein glänzender Dolch - ein Tauchermesser. "Für den Notfall", erklärt er, "sonst hast du keine Chance, wenn du dich unter Wasser in Netzen, Seilen oder Angelsehne verhedderst."
Sein Schüler hat sich die Taucherkluft bereits abgestreift und steht frierend im Wind. Gilderhaus schlägt dem Vater vor, für den Jungen eine Tauchschule zu suchen, er habe Talent und fühle sich wohl im Wasser. "Wer einmal damit anfängt, kann nicht mehr aufhören", sagt er und verabschiedet sich von der Familie.
Am Arm trägt er einen kleinen Computer der seine Tauchgänge dokumentiert. Gemeinhin erinnern sich Taucher gerne an ihre Tauchgänge, machen Fotos, führen Buch darüber. Gildehaus kennt aber auch jene Tauchgänge, an die man sich nicht gerne erinnert: Im August 2009 beispielsweise tauchte er auf über 50 Meter Tiefe, um die Leiche eines verunglückten Tauchers zu bergen.
Damals war ein 23-Jähriger aus dem Raum Lüneburg mit Tauchfreunden auf 38 Meter abgetaucht. Dort soll der junge Mann in Panik geraten sein und sank immer weiter in die Tiefe. Sein Begleiter versuchte noch zu helfen, musste jedoch nachdem er seinem Partner bis auf 44 Meter gefolgt war allein wieder auftauchen. Gildehaus war einer der Rettungstaucher, die an dem Tag Dienst hatten. "Als wir reingingen war er schon über eine Stunde im Wasser, da war nichts mehr zu machen."
Früher hat er bei den Johannitern gearbeitet, dort habe er gelernt mit Situationen, wie das Bergen von Unfallopfern, umzugehen. Er fand den Taucher regungslos am Grund des Sees und zog ihn an die Oberfläche. An Land konnte der Notarzt nur noch den Tod des Mannes feststellen. Ein technischer Defekt eines der Atemventile soll für den Unfall verantwortlich sein, teilte die Polizei mit. "Panik ist einfach tödlich", sagt Gildehaus, "dagegen hilft nur Erfahrung."
Auch beim jüngsten Unfall Mitte Mai spielte Panik vermutlich eine Rolle. Ein 30-jähriger Taucher aus dem südlichen Westfalen tauchte gemeinsam mit zwei Kollegen in 35 Meter Tiefe, als er plötzlich absackte. Mit einem U-Boot der Tauchbasis wurde der Mann etwa drei Stunden später in 60 Metern Tiefe geortet und geborgen. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Ein Fremdverschulden schließt die Polizei aus.
Stephan Gildehaus kommt auf über 200 Tauchgänge im Jahr. Unerfahrene Taucher würden sich in dem ungewöhnlich tiefen See überschätzen. Spätestens ab einer Wassertiefe von 30 Metern setzt mit erhöhter Stickstoffaufnahme der Tiefenrausch ein. "Rundherum wird alles schwarz, das Sichtfeld schrumpft auf einen kleinen Tunnel zusammen", sagt Gildehaus, "beim ausatmen klingt es als ob jemand neben deinem Ohr ein Blech schüttelt." Das logische Denkvermögen wird beeinträchtigt und man neigt zum Übermut. Daher tauche man in großen Tiefen mit einem Luft-Helium-Gemisch, um den Stickstoffanteil im Blut zu senken. "Unerfahrene Taucher können im Tiefenrausch in Panik geraten", und Panik bedeutete in 50 Metern Tiefe den Tod.
Unter den hohen Druckverhältnissen kann eine Gasflasche, die in geringerer Tiefe eine Stunde halten würde, von einem hyperventilierenden Taucher binnen Minuten verbraucht sein. Doch auch ein zu schneller Aufstieg aus der Tiefe birgt die Gefahr der Taucherkrankheit. Das im Blutkreislauf befindliche Stickstoff oder Helium perlt aus. Die Gasbläschen können zu schweren Gefäßverletzungen führen. Mehrmals mussten Taucher aus Hemmoor zur Behandlung in Dekompressionskammern nach Bremen oder Kiel ausgeflogen werden.
Von Betitelung der Boulevardpresse, wie "Todessee" oder "Mordwasser" hält Gildehaus dennoch nichts. "Das ist Quatsch, die Unfälle entstehen durch Leichtsinn oder einen technischen Defekt." Die Unfallzahlen der letzten Jahre würden oft aus dem Zusammenhang gerissen dargestellt werden, um eine Geschichte interessant zu machen. An Sommerwochenenden kommen über 1.000 Taucher zum Kreidesee. Jährlich gehen mehr als 30.000 Besucher im Kreidesee tauchen.
"Viel sicherer als hier kann man nicht tauchen", sagt Gildehaus, "und wenn doch etwas passiert, wird man hier wenigstens gefunden." Spezialisierte Rettungskräfte seien ständig vor Ort und Notruftelefone am Ufer.
Heute hat Gildehaus noch einen Nachmittagstauchgang vor, "an der Steilwand entlang tauchen und dann durch den Wald". Wenn man über die Baumkronen hinwegtauche sei das wie fliegen, sagt er. "Tauchen ist für mich Entspannung und Freiheit", sagt er. Und springt vom Steg aus ins Wasser.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken