Tanz-Performance über Fluchterfahrungen: Ein Meer ganz ohne Ufer
In „La Mer en moi“ erkunden der Bremer Choreograf Helge Letonja und der togolesische Tänzer Kossi Aholou-Wokawui die körperliche Erfahrung der Flucht.
Der Theatersaal ist dunkel, die Requisiten auf der Bühne können nur erahnt werden. Dann schwenkt ein Scheinwerfer durch den Raum: Der Boden ist vollständig mit Wasser bedeckt. Aus dem Hintergrund erklingen abwechselnd schrille und dumpfe Töne. Eine Person liegt zusammengekauert auf einer Box mit Rollen. Daneben eine lange Tafel, die mit einem Teller und Besteck gedeckt ist.
Bewegung füllt den Raum. Der Protagonist regt sich erst sanft und langsam, dann etwas schneller und hektischer. Das Wasser plätschert, spritzt. Die Musik stoppt, ein Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn wird vom Band abgespielt.
Die Performance „La mer en moi“, die der Choreograf Helge Letonja und der togolesische Tänzer Kossi Aholou-Wokawui entwickelt haben, begibt sich künstlerisch auf eine Spurensuche danach, wie Menschen ihre Fluchterfahrungen über das Mittelmeer verarbeiten und erinnern. Das Wasser auf der Bühne ist dabei zentrales Element der Performance: Es ist die Fläche, auf der die Spurensuche ausgetragen wird. Mal ist es still und ruhig, mal lauter und wilder, aber es ist permanent da.
Die Protagonisten Ahoulou-Wokawui und Médoune Seck füllen diesen Ort mit Leben. Durch ihren Tanz im Wasser spiegeln sie die körperliche Erfahrung der Flucht wider. Poetin und Künstlerin Ela Fischer ergänzt die tänzerischen Eindrücke durch Rück- und Vorblenden, die die Erinnerung an die Flucht, die Sehnsüchte und Ängste, die Trauer und Hoffnung, die Liebe und den Schmerz illustrieren.
Hommage an die Kraft des Herzens
„Das Stück ist eine Hommage an die Kraft des Herzens vieler Menschen“, erklärt sie. „Deine Füße sind nass, dein Haupt ist geneigt und trotzdem stehst du jeden Tag auf.“ Denn viele von ihnen begeben sich mit anderen Männern, Frauen und Kindern, umhüllt von der Unendlichkeit des Meeres, auf eine Reise ins Ungewisse. Während ihrer Flucht machen sie traumatische Erfahrungen, die sie auch nach der Ankunft in Europa nicht mehr loslassen. Und obwohl sich viele dieser Bilder einbrennen, verlieren sie nicht den Mut.
Auf diese Umstände deutet auch der Titel „La mer en moi“ hin, auf Deutsch „Das Meer in mir“. Die See wird auf dem Schlauchboot zu einer unberechenbaren Gefahr, der niemand entfliehen kann. Ängste, Sorgen und Hoffnungen begleiten die unsichere Reise nach Europa. Der Titel verweist darauf, dass „das Meer in der Erinnerung der Menschen weiterlebt – sei es in ihren Träumen, in ihrem Alltag“, erklärt Choreograf Letonja.
Die Ankunft allein lässt nicht vergessen, was erlebt und zurückgelassen wurde. Geliebte Menschen zurücklassen zu müssen, hinterlässt ein Loch im Herzen. Gleichzeitig leben auch sie in der Erinnerung der Menschen weiter, die ihre Heimat verlassen haben – daher kann der Titel auch „Die Mutter in mir“ bedeuten, so Letonja.
Unmittelbar greifbar werden diese Elemente durch die Rück- und Vorblenden, die das Stück begleiten. Sie bringen Licht ins Dunkel: Wie fühlen sich Menschen nach ihrer Ankunft? Worüber denken sie nach? Sie erzählen von den Fluchterfahrungen, die sie nicht loslassen, von der Sehnsucht nach der eigenen Heimat und von der Hoffnung, in einem fremden Land eine neue Heimat zu finden.
Realität jenseits stereotyper Narrative
Und sie erzählen von den Sorgen einer Mutter, die ihr Kind nicht freiwillig gehen lassen hat. „Sie sind ein Wellengang der eigenen Existenz und fragen: Wo beginnst du als Rinnsal und wo endest du als Ozean?“, sagt Fischer. Das Stück gibt Betroffenen eine Stimme und macht ihre Lebensrealität jenseits von stereotypischen Narrativen sichtbar. Es soll daran erinnern, dass sich hinter den vielen Gesichtern Menschen verbergen, die weit mehr sind als ihre Fluchterfahrung. Sie alle haben eine individuelle Geschichte, die sie ausmacht und Anerkennung verdient.
Performance „La mer en moi“, Uraufführung 11. 5., weitere Termine am 14. 5. und 15. 5., jeweils 20 Uhr, Schwankhalle, Buntentorsteinweg 112, Bremen
„Mit dem Stück möchten wir Menschen mit ihren Sinnen ansprechen. Jeder von uns kann sich einfühlen, wenn er zuhört. Das passiert in der Begegnung und die Begegnung versuchen wir herzustellen“, erklärt Dramaturgin Anke Euler. Gleichzeitig ist das Stück eine Kritik daran, dass wir Menschen in Europa unsere Augen vor der grausamen Realität an den Grenzen Europas verschließen.
Anstelle auf die Betroffenen zu hören und ihnen einen Neuanfang in Sicherheit und Geborgenheit zu ermöglichen, schotten wir uns zunehmend ab und reproduzieren entmenschlichende Erzählungen über Menschen aus dem globalen Süden. Dadurch würden wir unsere eigene Moral und unsere eignen Werte über Bord werfen, so Letonja.
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