Tagung über Hans Magnus Enzensberger: Unser Zeit-Genosse
Harlekin und Kolibri, Apologet und Kritiker, Anarchist und Konservativer, Diagnostiker und Dichter: Eine Tagung in Marbach über Hans Magnus Enzensbergers zahlreiche Rollen in der Bundesrepublik.
Schlank ist sie, mit schlohweißem Haar und ebensolchem Hemd plus elegantem schwarzen Sakko; und ihr Alter möchte man der lächelnden Diva dort vorne auf dem Podium ohnehin nicht glauben, wenn sie sich, eingekeilt zwischen ihre beiden ebenso ehrfürchtigen wie hartnäckigen jungen Verehrer, deren Avancen mit kokettem Augenaufschlag, wegwerfenden Handbewegungen, hin und her wogendem Oberkörper entzieht: Der Dichterstar Hans Magnus Enzensberger, der in diesem deutschen Jubiläumsjahr am 11. November seinen 80. Geburtstag feiert, zelebrierte vergangene Woche im Deutschen Literaturarchiv in Marbach einen seiner großen Auftritte. Den vollbesetzten Saal hatte der Selbstdarstellungskünstler im Nu auf seiner Seite; man lauschte dem Singsang seines fränkischen Idioms und amüsierte sich über die unterhaltsamen Pirouetten auf der Bühne.
"Ich will nicht vertraulich sein", bekannte der Dichter gleich zu Beginn seiner Show, womit er zugleich sein intellektuell-ästhetisches Grundprinzip benannte. Hoffnungslos scheitern seit Jahrzehnten alle Versuche, ihn festzulegen; denn festgelegt hat er sich selbst seit jeher auf die Rolle desjenigen, der allen Festlegungen entwischt. "Immer diese Verabschiedungen!", mokiert er, der selten Probleme mit dem Abschiednehmen hatte, sich über die Idee, etwas könne ästhetisch überholt sein: "Wenn jemand sagt, das geht nicht mehr: Ich finde immer sofort ein Gegenbeispiel." Natürlich wiederholt Enzensberger den identitären Evergreen seiner Generation: Unerträglich "unhygienisch" seien die Fünfzigerjahre gewesen, überall Exnazis als Polizeipräsidenten und Ärzte aus Mauthausen. Doch er weiß, anders als die beiden anderen bundesdeutschen Großintellektuellen Jürgen Habermas und Günter Grass, um das Risiko dieser eindeutigen und damit Denkfaulheiten befördernden Diagnose: "Man hatte gegen die Nazis immer recht."
Und wie steht es um die eigenen Denkfaulheiten? Schließlich hatte sich Enzensberger zuletzt im Rückblick auf 1968 als bloß "teilnehmenden Beobachter" getarnt, was seine damalige Rolle als Stichwortgeber der Linken, zwischen Kursbuch-Redaktion und Kuba-Emigration, doch arg vernebelte. Rasch lacht Enzensberger nun das "schreckliche Gespräch" weg - gemeint war sein legendäres, im Oktober 1967 geführtes Kursbuch-Gespräch mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler, in dem anschaulich von der Revolution in Westberlin geträumt wurde. "Nordkorea habe ich nie besucht."
Best Case des Sozialismus
Und Kuba? Nun ja, er habe damals bei seinem bekanntlich mit lautem Tamtam inszenierten Aufenthalt auf der Insel eine Best-case-Analyse des Sozialismus machen wollen, mit Sonne, Strand und Zuckerrohr, ohne russische Panzer. Währenddessen habe er arme, unerfahrene kubanische Jungdiplomaten unterrichtet und ihnen erklärt, wie Europa funktioniert und was Gewerkschaften sind. Schnell drehte sich aber der von solchen pittoresken Selbstauskünften gelangweilte Virtuose dort vorne auf der Bühne lächelnd weiter: "Ich will das nicht weiter ausbreiten, das ist falscher Exotismus, Schwamm drüber."
Dass es in dieser höchst professionellen Inszenierung dann doch noch einen "Der Kaiser ist nackt"-Moment gab, lag an der höflichen Frage einer jungen linken Studentin, die dem Dichter dessen Ausweichen nicht durchgehen lassen wollte: Wie verhält es sich denn nun mit Herrschaftskritik und Anarchismus, wovon doch so viel in seiner Lyrik die Rede sei? Da schlüpfte der ewig jungenhafte Enzensberger urplötzlich dann doch in die Rolle des weisen Großvaters: Anarchismus funktioniere nun einmal nicht, im Übrigen habe er einst schon dem radikaleren Peter Weiss entgegengehalten: "Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit."
Das tänzelnde Hin und Her, so eindrucksvoll zu studieren an diesem Abend, gehört unauflöslich zum Phänomen Hans Magnus Enzensberger. Einmal mehr konnte man sich davon auf dieser zweitägigen Tagung überzeugen; der Enzensberger-Auftritt hatte deren öffentliches Rahmenprogramm abgegeben. Der Dichter selbst verzichtete darauf, den Vorträgen über "Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik" zu lauschen; nur mittags und abends tauchte er als charmanter Plauderer auf. Vielleicht hatte er humanerweise an seinen Kollegen Robert Gernhardt gedacht, der einst die Tücken aller HME-Forschung bedichtet hatte: "enzensbergers exeget hechelt / enzensberger: geh her exeget / enzensbergers exeget fleht / enzensberger: nee exeget nee / enzensbergers exeget kleckert / enzensberger: Ekel erregend / enzensbergers exeget quengelt: / elender enzensbergerexegetenschelter / enzensberger: nervender esel / enzensbergers exeget flennt / enzensberger: hehehe." Enzensbergers Exegeten hatten das Lachen des Dichters offenbar im Ohr; revolutionäre Neuinterpretationen unterblieben jedenfalls. Die zahllosen Farbwechsel des HME-Chamäleons, von links bis rechts, von elitär bis populär, unterscheiden ihn deutlich von den Geschlossenheits- und Kontinuitätszwängen seiner intellektuellen Generationsgenossen. Roman Luckscheiter (Bonn) führte vor, wie der "zornige junge Mann" (Alfred Andersch) 1960 in seiner berühmten Besprechung des Neckermann-Katalogs noch den Stumpfsinn der Massen attackierte, 1970 in seinen "Bausteinen zu einer Theorie der Medien" euphorisch die massenmobilisierende Kraft alternativer Medien feierte, 1972 überall "Horden von Asozialen und Egoisten" entdeckte, 1990 die politisch-zivilisatorische Weisheit der Mehrheit lobte, um sich 1997 höchst angewidert von den "tobenden Massen der Straßenfestkultur" zu zeigen. Eine "skeptische Moralistik" hinter ironischen Tarnkappen konnte Jens Hacke (Hamburger Institut für Sozialforschung) bei Enzensberger entdecken; dessen Achterbahnfahrt in Sachen Ideen sei von Ironie begleitet, worin der Dichter dem von ihm geschätzten Philosophen Odo Marquard nicht unähnlich sei. Hackes Hamburger Kollege Wolfgang Kraushaar rekonstruierte minutiös die linke Phase Enzensbergers. Mitnichten sei er nur ein Beobachter gewesen, wie Enzensberger Glauben machen wolle: Kraushaar sah einen "Mitakteur", in dessen multipler Persönlichkeit einen "Libero der Achtundsechziger" am Werk, dabei aber nicht als Ausputzer, sondern als freier Stratege. Der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson steuerte als Zeitzeuge mit seinem markanten, gutturalen "Joouh" untermalte Anekdoten Deutungen bei und sah in seinem Freund "Doktor Enzensberger" damals einen "Besucher von einem anderen Planeten, der einmal die Revolution besuchte".
In Grundsatzfragen konnte allerdings zumindest der frühe Enzensberger auch anders, wie Stephan Schlak (Marbach) anhand des Briefwechsels mit Peter Hacks darstellte: Während der in die DDR gegangene Hacks die Lyrik des Kollegen heftig attackiert ("Schnulzen"), wird Enzensberger im Januar 1959 zum vehementen Verteidiger der Bundesrepublik gegenüber der östlichen Ideologie: "ich habe fragen, sie haben antworten", die zudem "erbärmlich" seien, ein gutes Gewissen machten und "die mühe und die trauer des zweifels" ersparten. Der Philosoph Andreas Urs Sommer (Freiburg) schaute noch einmal auf die Unterschiede im Denken Enzensbergers zur bundesdeutschen Philosophie, deren Verlässlichkeit immer auf einer staatstragenden Aufgabe beruhte.
Briefe mit Ratzinger
Da war es folgerichtig, dass Jürgen Habermas 1968 den "Kolibri" Enzensberger (Peter Rühmkorf) heftig attackierte: als "zugereisten Harlekin", der "am Hof der Scheinrevolutionäre, der, weil er so lange unglaubwürdige Metaphern aus dem Sprachgebrauch der zwanziger Jahre für seinerzeit folgenlose Poeme entlehnen musste, nun flugs zum Dichter der Revolution sich aufschwingt - aber immer noch mit der Attitüde des Unverantwortlichen, der sich um die praktischen Folgen seiner auslösenden Reize nicht kümmert." Doch auch HME hat später Briefe mit Joseph Ratzinger gewechselt, bevor dieser Papst wurde: Tagungsleiter Dirk von Petersdorff (Jena) erzählte, wie ihm der Dichter davon ohne nähere Einzelheiten berichtet habe. Auf diese Briefwechsel darf man gespannt sein.
Einmal sah man durch das Fensterglas des Tagungsraumes draußen den Dichter im wehenden schwarzen Mantel vorbeispazieren, unweit des Schillerdenkmals - die Geistererscheinung eines bundesdeutschen Klassikers, ein stummer Kommentar just in dem Augenblick, als Wolfgang Kraushaar die revolutionären Irrwege des Dichters vorführte. Derweil die Forscher debattierten, hatte er sich mit dem Marbacher Literaturarchiv vertraut gemacht, wo viele poetischen Schätze, Originalmanuskripte von Mörike bis Benn, Rühmkorf und Hacks, gut gekühlt lagern; womöglich auch dereinst die Hinterlassenschaft von Enzensberger.
Doch das Archiv verheißt eine trügerische Sicherheit. Denn ob und wie Enzensberger, der Dichter der Bundesrepublik, in 50 Jahren gelesen wird, ist durchaus ungewiss. Vielleicht sind Dr. Enzensbergers Haltung und Werk doch zu eng mit den längst historisch gewordenen bundesrepublikanischen Zeitläuften verwoben, um einen gleichrangigen Platz neben Dr. Benn in der imaginären Dichter-Ewigkeit zugewiesen zu bekommen.
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