Tagebuch aus der Ukraine: Wenn Oma nicht mit Opa beigesetzt werden kann
Viele Menschen haben Angst, in der Ferne begraben zu werden. Die Großmutter unseres Autors wurde auf einem anderen Friedhof als ihr Mann beerdigt.
M anchmal scherze ich düster, dass mein Vater doch großes Glück hatte, den Beginn des großen Krieges in der Ukraine nicht mehr erlebt zu haben. Ich musste ihn nicht überreden wegzugehen. Und ihm helfen, sich an einem neuen Ort einzuleben, musste ich auch nicht. Der Friedhof, auf dem mein Vater begraben liegt, ist mit Gras bewachsen, Fliegerangriffe und Kanoneneinschlag sind nicht zu befürchten.
Ich habe das Grab meines Vaters ein einziges Mal besucht, seit die Russen uns aus unserer Heimatstadt im Osten der Ukraine vertrieben haben. Sein Grabmal auf dem Friedhof sah viel besser aus als unser Haus.
Meine Großmutter hatte viel weniger Glück. Ich konnte sie erst im zweiten Kriegsjahr, 2023, zur Evakuierung überreden. Zu diesem Zeitpunkt waren fast alle Fenster ihres Hauses zerbrochen. Ich glaube, sie wusste, dass sie das Haus, in dem sie ein halbes Jahrhundert gelebt hatte, für immer verlassen musste. Wenn man über 80 Jahre alt ist, kann man kaum noch auf Besseres hoffen. Ich wäre in einer solchen Situation auch nirgendwo hingegangen.
Im April dieses Jahres ist sie gestorben. In ihren letzten Jahren konnte sie fast nichts mehr sehen, ging schlecht und war auf Hilfe angewiesen. In den kritischsten Momenten, als sie fast bewusstlos war, bat sie darum, nach Hause gebracht zu werden. In die zerstörte Straße, in die kalte Hütte – nur dorthin, wo alles vertraut war. Schließlich konnte sie von dort, obwohl sie fast blind war, noch das Grab ihres Mannes finden. Jetzt trennen sie fast 200 Kilometer.
Es sollte nicht sein. Sie musste auf dem Friedhof einer fremden Stadt beerdigt werden, unweit des blau-gelben Meeres, zwischen den Gräbern ukrainischer Soldaten.
Der Tod in der Ferne
Ich habe mit meiner Großmutter nie über den Zweiten Weltkrieg gesprochen, und sie erinnerte sich wahrscheinlich kaum daran, aber ich bedaure aufrichtig, dass sie einen neuen Krieg erleben musste.
Es wird oft erzählt, dass vor allem ältere Menschen sich weigern, ihre Häuser zu verlassen, um zu fliehen. Das ist aber nicht so überraschend: Mit der Rente kommt man nicht weit. Und es ist zudem unwahrscheinlich, dass sie sich in einem neuen Leben zurechtfinden werden.
Aber es gibt auch noch ein weiteres Motiv zu bleiben: Es gibt Menschen, die Angst haben, weit weg von zu Hause zu sterben. Sie wissen, dass ihr Sarg vermutlich nicht in ihre Heimat zurückgeführt werden wird – vor allem, wenn diese vom Krieg zerstört ist oder hinter der Frontlinie liegt.
Meine Großmutter wurde eines von Tausenden stillen Opfern des russisch-ukrainischen Krieges. Sie hatte ein langes Leben, hätte aber ohne den Krieg noch viel länger leben können: Wenn ein russischer Panzer nicht die Bäume vor ihrem Haus zerstört hätte. Wenn es in ihrem Haus Strom gegeben hätte und wenn die Fenster noch intakt wären. Wenn wir alle zusammen wären und nicht über die ganze Welt verstreut.
Ich bin nicht religiös und glaube daher nicht an ein Leben nach dem Tod. Aber ich denke, dass die Unmöglichkeit, wenigstens tot nach Hause zurückkehren zu können, vielen Menschen als Hölle erscheint. Es ist schade, dass viele von uns dort landen werden.
Vasili Makarenko ist freier Autor aus Kyjiw und war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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