Tagebuch aus der Ukraine: Es ist Krieg, machen wir was draus
Unter den russischen Bombardements leidet die Stadt Charkiw besonders. Doch gerade hier tobt wieder das pralle Leben. Aus Trotz und für die Freiheit.

D er Zug nähert sich langsam dem Bahnhof. Mein Handy vibriert: „Achtung, Luftalarm. Begeben Sie sich sofort in den nächsten Schutzraum.“ Ich komme in Charkiw an. Die Stadt, die einst brodelte, in der ich studentische Partys feierte, sie ist nun erfüllt von den Geräuschen von Generatoren, Sirenen und Explosionen, die die Wohnviertel erschüttern und beschädigen. Bis zur Front sind es nur zwanzig Kilometer.
Trotz der Zerstörung und trotz der Gefahr kehren die Einwohner:innen von Charkiw zurück. Vor der vollständigen Invasion der Ukraine durch Russland lebten hier knapp anderthalb Millionen Menschen. In den ersten Monaten nach den Angriffen blieben nur etwa 400.000 zurück. Trotz der täglichen Attacken leben heute wieder etwa 1,3 Millionen Menschen in der Stadt.
Am Bahnhof holt mich meine Freundin Ada ab. „Willst du sehen, wie es jetzt in Charkiw ist?“, fragt sie. Vor drei Jahren, als sie erst 23 war, hat sie ihr Studium in Oxford abgebrochen, ist in die Ukraine gezogen und hat die Wohltätigkeitsorganisation KHARPP gegründet, die dabei hilft, Häuser wieder aufzubauen, die durch russische Angriffe zerstört wurden.
Wir steigen in ihren riesigen Geländewagen. Mein Blick bleibt an Details hängen: ein kurzer Rock, Samtstiefeletten mit massiven Absätzen, lange und auffällige Fingernägel – sie sieht aus, als modele sie für ein Hochglanzmagazin und nicht wie jemand, der einen schmutzigen Geländewagen fährt. Ich stelle mir vor, wie sie in diesem Outfit über die zerbrochenen Straßen an der Front rast und selbstbewusst die Straßensperren passiert.
Schöne Fingernägel zeigen auf das Schöne im Leben
Ada bemerkt meinen Blick. „Ich habe einmal mit einer Frau ehrenamtlich gearbeitet. Sie hatte immer eine makellose Maniküre. Ich machte ihr ein Kompliment, und sie antwortete: ‚Meine Nägel sind immer in Ordnung – das erinnert mich daran, dass es im Leben nicht nur Krieg gibt‘“, sagt Ada und lächelt.
Mit der Zeit kann ich das nicht nur sehen, wenn ich auf Ada schaue: dieser schöne, hartnäckige Lebenswille. Wie ein Funke in der Dunkelheit brennt er in den Herzen vieler Einwohner:innen von Charkiw. Besonders dann leuchtet er, wenn fast kein Licht mehr da ist.
Sogar die Stadt selbst scheint gelernt zu haben, die Dunkelheit aufzunehmen und in etwas Lebendiges zu verwandeln. Wir fahren an einem Restaurant vorbei, wo die Mittagstische inmitten der Trümmer stehen. Die Wände, die Spuren von Granatsplittern zeigen, sind mit sanftem Licht beleuchtet. Kellner huschen ruhig zwischen den Tischen hin und her. Die Gäste trinken Cocktails und unterhalten sich. Wie in jeder anderen Stadt, wie an jedem anderen Abend.
In Charkiw gibt es etwa 1.600 Restaurants und Cafés, und ständig kommen neue hinzu – allein im vergangenen Jahr waren es 60. Am Abend gehen wir in eines davon. Es regnet leicht, die Luft ist von Alarmgeräuschen erfüllt, die Straßen sind leer und in Dämmerung gehüllt. Aber sobald wir die Tür öffnen, werden wir von Wärme empfangen. Und von ukrainischen Fusion-Häppchen.
Keine Sekunde steht diese Stadt still. Es gibt Konzerte, Theaterpremieren, Ausstellungen. Kein Wunder, dass sich der Club, der der Front am nächsten ist, gerade in Charkiw befindet. Es ist das Zentrum für neue Kultur. Im Jahr 2023 hat die Charkiwer Band „Some People“ diesen Treffpunkt für Studierende, Soldat:innen, Künstler:innen eröffnet. Es ist ein Ort, an dem sie sich alle Menschen wieder lebendig fühlen können.
In dieser Stadt geht es definitiv nicht ums Überleben. Charkiw steht für Wahlfreiheit und Freiheit. Es ist die Stadt derer, die mitten im Krieg etwas Neues aufbauen.
Yulia Kalaban ist Journalistin und lebt (wieder) in der Ukraine. Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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