TV-Reportage zur Eurokrise: Vorurteile statt Fakten
Verwaiste Polo-Stadien, Korruption: Die Spiegel-TV-Serie „Europa am Abgrund“ zeigt reichlich Klischees über die Ursachen der Eurokrise.
Giarre, immer wieder Giarre. Das Schweizer Fernsehen war schon 2008 da. Arte und die BBC haben die Stadt schon gezeigt. Und jetzt schickt Spiegel-TV noch einmal die in Berlin lebende Sängerin Etta Scolo in den Ort am Fuße des Ätna. Die Stadt der sinnlosen und nie fertiggestellten Projekte. Darunter ein Polostadion, in einem Land, das kaum Polo spielt. Die Tribünen rosten vor sich hin. Giarre scheint das perfekte Beispiel, um zu illustrieren, was in Italien, ach: im europäischen Süden, falsch läuft.
„Europa am Abgrund“, heißt die Spiegel-TV-Reportageserie zur Eurokrise, die heute auf Sat.1 startet. Zumindest die ersten beiden Folgen, Griechenland und Italien, verfilmen den deutschen Blickwinkel auf die Misere im Süden. In dem sind Misswirtschaft, Korruption, Staatsschulden und südliche Faulheit verantwortlich dafür; Finanzspekulation, deutscher Exportwahn und die Merkel’sche Krisenpolitik tragen keine Mitschuld.
Die Gastreporter, Etta Scolo und der griechischstämmige Journalist Alexandros Stefanidis, dürfen nur in ihren Herkunftsländern (beziehungsweise denen ihrer Eltern) fahnden, nicht bei deutschen Unternehmen und im Berliner Regierungsviertel.
Sizilien erklärt nicht alles
Im Auftaktfilm zur Serie spürt Stefanidis griechischer Korruption hinterher, den chaotischen Zuständen in den Krankenhäusern angesichts der Sparzwänge, zeigt Menschen ohne Jobs und Händler ohne Umsätze. Was am deutschen Blick auf der Eurokrise nicht stimmt, zeigt umso deutlicher der zweite Teil am 14. Januar. Spiegel-TV lässt Etta Scollo die klassische deutsche Italien-Reise machen: über den Brenner nach Norditalien nach Rom und dann nach Sizilien, nach Giarre, Palermo und auf die Dörfer zu ihren Verwandten. Mit der Region beschäftigt sich die Hälfte des 25-Minuten-Beitrags.
Italiens Wirtschaft mit Sizilien erklären zu wollen, ist aber so aufschlussreich wie die deutsche mit Mecklenburg-Vorpommern. Italiens Süden ist schon seit der Staatsgründung 1861 ein Krisenfall, die Mafia kein neues Problem. Hilfsgelder versickern im Süden schon lange – das Polostadion wurde etwa schon in den Achtzigern geplant.
Mit der aktuellen Krise hat das ebenso wenig zu tun wie die von Scollo besuchten Fiat-Werke, deren Probleme spätestens in den Neunzigern begannen. Spiegel-TV sucht die Bilder zum Klischee – und findet sie, natürlich. Man könnte ähnliche auch in Deutschland ausmachen: Aber wäre Kurt Becks Nürburgring ein Beweis für „Deutschland am Abgrund“?
Produktiver Norden
Allen Problemen zum Trotz hat Italien eine der florierenden Volkswirtschaften in Europa, vor allem dank der vielen kleinen produktiven Unternehmen im Norden. Scollo besucht nur eines davon. In der EU war Italien 2011 hinter Deutschland der zweitgrößte Nettozahler, gemessen am Bruttoinlandsprodukt sogar der größte. Spiegel-TV erwähnt das nicht.
Und auch nicht, dass die aktuellen italienischen Wirtschaftsprobleme eher ein Kollateralschaden der Eurokrise sind. Das Land bekam neue Kredite an den Finanzmärkten nur noch zu immens hohen Zinssätzen. Mario Monti löste Berlusconi als Premier ab und begann seine Sparpolitik. Das Wirtschaftswachstum brach ein, die Zinssätze blieben hoch.
Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), setzte 2012 schließlich nach langem Widerstand der Deutschen den notfalls unbegrenzten Aufkauf von Staatsanleihen der Eurostaaten durch. Seitdem ist zunächst Ruhe an der Krisenfront. Als langfristiges Problem ist Montis Sparpolitik geblieben. Vielleicht hätte Spiegel-TV seine Reise ja in Brüssel statt am Brenner beginnen lassen sollen – mit einem Italiener, der erklärt, dass Europa nicht mehr am Abgrund steht, seitdem sich die deutsche Sicht auf die Krise nicht mehr durchsetzen konnte.
„Europa am Abgrund“, Montag, 7. Januar, 23 Uhr, SAT 1
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten