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TV-Doku über AbschiebungWie ein nüchterner Faustschlag

„Tod nach Abschiebung - Wadim“ erzählt die Geschichte eines Suizids. Die Doku ist von 2011, das Erste zeigt sie erst jetzt – ein Armutszeugnis.

2010 warf Wadim sich vor einen Zug in Hamburg. Bild: NDR

Diese Doku ist wie ein Faustschlag. „Tod nach Abschiebung – Wadim“ heißt das 90-minütige Meisterwerk, das heute Abend im Ersten läuft. Erzählt wird die Geschichte von Wadim, der sechs Jahre alt ist, als er 1992 mit seinen Eltern aus Riga nach Hamburg kommt. Seine Familie gehörte zum russischen Bevölkerungsteil Lettlands und fühlte sich nach der Unabhängigkeit des Landes chancenlos.

Ihr Asylantrag wird in Deutschland 1995 abgelehnt, Lettland weigert sich jahrelang, die Familie aufzunehmen. In Hamburg droht die Abschiebung. 2005 stehen Mitarbeiter der Ausländerbehörde mitten in der Nacht vor der Wohnungstür. Der Vater wehrt sich, die Mutter schneidet sich die Pulsadern auf, der 18-jährige Wadim wird in ein Obdachlosenasyl in Riga abgeschoben.

Für Wadim beginnt eine Odyssee, die ihn auch immer wieder heimlich zu seinen Eltern nach Hamburg führt. Sie haben mittlerweile eine Aufenthaltsgenehmigung, er darf nicht einreisen. Aus lauter Verzweiflung nimmt Wadim sich im Januar 2010 in Hamburg das Leben.

Die Hamburger Journalisten Hauke Wendler und Carsten Rau erzählen diese Geschichte in einem nüchternen Stil und mit ruhigen Bildern. „Die Geschichte ist emotional so belastend für die Zuschauer, dass sich der Film formal zurücknehmen muss“, sagt Hauke Wendler. „Wir haben auf einen Kommentartext verzichtet, weil die Geschichte für sich steht. Jede Skandalisierung hätte nur geschadet.“

Wadims Eltern stehen im Mittelpunkt, aber auch der Rechtsanwalt der Familie, Freunde, eine Lehrerin und weitere Personen rekonstruieren diese Tragödie, die hätte verhindert werden können: „Es gibt für die Behörden immer Ermessensspielräume“, sagt Wendler. „Niemand muss mitten in der Nacht einen Jungen abschieben, dessen Mutter gerade einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Allerdings darf man die Hamburger Ausländerbehörde auch nicht allein verantwortlich machen. Der Druck, der auf Ausländer ausgeübt wird, muss immer politisch toleriert werden, und das wurde und wird er in Hamburg – egal, unter welchem Senat.“

Ein Dreivierteljahr lang haben Wendler und Rau einen Sender für ihr Projekt gesucht. Dass es so lange gedauert hat, wirft von außen betrachtet kein gutes Licht auf die Dokumentarfilm-Redaktionen in diesem Land. Hauke Wendler sieht das gelassen: „Ein Redakteur bekommt pro Woche Dutzende Exposés, oft mit ähnlichen Themen. ‘Wadim‘ ist unser erster 90-minütiger Dokumentarfilm, da ist es für die Redakteure vorab schwer einzuschätzen, was dabei am Ende für ein Film herauskommt.“

Schließlich kam eine Zusage vom NDR, wo die Doku im Dezember 2011 zu später Stunde lief. Sie hatte 80.000 Zuschauer, bekam glänzende Kritiken, wurde anschließend im In- und Ausland in Kinos gezeigt und mit Preisen bedacht. Kurz nach der Ausstrahlung im Dritten entschied ARD-Chefredakteur Thomas Baumann: Der Film muss auch ins Erste.

„Für uns ist es wichtig, dass der Film jetzt die Chance bekommt, viele Menschen zu erreichen“, sagt Wendler. „Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Minoritäten und mit hilfsbedürftigen Menschen umgeht. Wadims Selbstmord zeigt, dass es damit bei uns nicht immer zum Besten steht.“

„Tod nach Abschiebung - Wadim“, 22.45 Uhr, ARD.

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10 Kommentare

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  • D
    Diaphenia

    Die Schreibtischtäter erfreuen sich bester Gesundheit...

    "Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte" - d'accord, Herr Liebermann!

  • MS
    Max Schneider

    „Für uns ist es wichtig, dass der Film jetzt die Chance bekommt, viele Menschen zu erreichen“, sagt Wendler. [...]22.45 Uhr, ARD.

     

    Was jetzt, "viele Menschen erreichen oder 22:45 Uhr?

  • T
    TorZurWelt

    Unendlich traurig.

  • C
    Christopher

    Christopher aus Frankfurt am Main,

    Offensichtlich hat mein Vorredner (Michel)den Film nicht richtig verstanden beziehungsweise er wollte ihn gar nicht richtig verstehen. Eigentlich sehr traurig.

    Man gewinnt den Eindruck als sei Michel selbst Teil der Ausländerbehörde gewesen und Unternimmt nun den Versuch sein schlechtes Gewissen durch diesen durch und durch durchwachsenen Leserkommentar zu beruhigen. Der Trick die Schuld auf andere zu schieben um so von seiner eigenen Schuld abzulenken ist ziemlich alt und vorliegend unangebracht. Eigentlich sollte man sowas nicht nötig haben.

     

    Lieber Michel, leider kann man im vorliegenden Fall dein Gewissen nicht beruhigen

    Dieser Film zeigt in einer sehr brutalen Art und Weise die Realität. Die Behörden haben leider im vorliegenden Fall jegliches Fingerspitzen Gefühl vermissen lassen und falsche Ermessensentscheidungen getroffen mit fatalen Folgen für die Betroffenen.

    Bemerkungen, dass die Bundesrepublik Deutschland vorliegend über großzügige Asylgesetze verfüge sind völlig deplatziert und letztendlich eine Verhöhnung des Opfers

    Dies ist kein guter Stil und muss wirklich nicht sein

  • P
    Peter

    Wer die Dokumentation verpaßt hat, kann sie sich hier nochmal anschauen: www.youtube.com/watch?v=DIigIO0Dbho

  • M
    Michel

    Ich habe den Film sehr interessiert gesehen...beeindruckend.

     

    Aber ändern wird sich nichts, kann es auch nicht. Unsere Asylgesetze sind so wie sie sind schon sehr großzügig.

     

    Wenn hier überhaupt jemandem Vorwürfe zu machen sind, dann Wadim's Eltern.

    Sie wußten seit Jahren, dass sie auf gepackten Koffern sitzen, dass sie eines Tages deportiert werden, wenn sie nicht vorher freiwillig gehen.

    Besonders klar muß ihnen das gewesen sein, als das Abkommen mit Lettland unterschrieben wurde.

    Lettland ist ein friedliches demokratisches Land in Europa, kein Grund für politisches Asyl.

     

    Sie haben es gewußt, aber völlig ausgeblendet, ignoriert und die ganze Zeit passiv darauf gewartet bis das Schwert des Damokles fällt.

    Sie hatten viele Jahre Zeit gehabt eine andere Lebensalternative zu entwickeln, alleine schon der beiden Kinder wegen. An einer Möglichkeit zu arbeiten, dass ihnen das zusammenbleiben ermöglicht...in Lettland, in Russland...irgendwo. Sie hätten zumindest dafür sorgen müssen, dass Wadim die Sprache nicht verlernt...

     

    Sie haben NICHTS getan, gar nichts! Der Junge mußte es letztendlich völlig unvorbereitet, getrennt von seiner Familie, in einem Land dessen Kultur und Sprache er nicht mehr kennt, ausbaden.

     

    Was ich auch schlimm fand war der Kommentar des polnischen Rechtsvertreters der Familie, es klang immer so als ob Deutschland, das Land das diese Familie aufgenommen hat und sie so viele Jahre finanziell und materiell unterstützt hat nun irgendwie and allem Schuld ist.

    Das ist einfach nicht wahr und überhaupt nicht gerecht.

     

    -----

     

    "...„Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Minoritäten und mit hilfsbedürftigen Menschen umgeht...."

     

    ------

     

    Ja genau Herr Wendler!

    Sogar die Eltern werden jetzt nicht mehr abgeschoben, weil beide psychisch erkrankt sind und Lettland keine kostenlose Betreuung für sie garantieren kann.

    Welches andere Land ist so großzügig, ich kenne keines!

     

    Und ich erinnere mich auch nicht an Pogrome oder Massentötungen von Russen in Lettland.

    Es wurde ja selber klar gestellt, dass selbst diejenigen Russen, die keinen lettischen Pass besitzen, sehr wohl in Lettland leben können.

     

    Als Zusammenfassung dieses Berichts kann man eigentlich nur sagen:

    Wäre die Familie wohl besser mal zu Hause geblieben, dann wären die Eltern jetzt noch gesund und ihr Junge noch

    am Leben!

  • MH
    Markus Hoffmann

    Ich verstehe das "Armutszeugnis" nicht: Der Film ist von der ARD finanziert, im selben Jahr gesendet und wegen des großen Erfolges nach zwei Jahren im Ersten wiederholt worden. So weit, so absolut normal. Was ist daran "Armutszeugnis"?! Soll die ARD jedem, der mit einer Doku-Idee daherkommt, erstmal 60.000 Euro in die Tasche stecken? Muss jede Doku sofort nach Fertigstellung um 20.00Uhr im ERSTEN laufen? Und dann wöchentlich wiederholt werden? Diese zwanghafte Skandalisierung von Banalitäten nervt mich. So langsam gehen der TAZ augenscheinlich stichhaltige Argumente für ihr ARD-Bashing aus. Und: Glaubt ihr ernsthaft, der Film wäre jemals im privaten Fernsehen gelaufen?

  • I
    irmi

    „Tod nach Abschiebung - Wadim“ erzählt die Geschichte eines Suizids. Die Doku ist von 2011,

    Was ist mit Tod bei der Abschiebung wie damals der grausame Tod des Sudanesen AAMIR Ageeb 1999, der so stark nach unten gedrückt wurde beim Start der LH Maschine, das er qualvoll ersticken musste. Eine Welle der Empörung wurde mit einer großen Demo zum Ausdruck gebracht.

    Die drei angeklagten bekamen 5 Jahre später nur 9 Monate auf Bewährung. so wenig ist ein Menschenleben wert.

    Unter aktivgegenabschiebung.drittewelthaus.de/040203mdz.html ist das Urteil zu lesen ( Titel: Urteil im BGS-Prozess um den Tod des Flüchtlings Aamir Ageeb). Interessant ist, wie der Verstorbene beschrieben wurde um die Art der tödlichen Behandlung zu begründen. Was uns das wohl sagen soll ?

  • L
    lowandorder

    Nein, man muß niemanden des nachts aus einem Wohnheim zerren.

    Wenn es keinen vorausgehenden Verdunklungsvorgang gibt, dürfte es zudem grundsätzlich rechtswidrig sein.

    Ein erschütterndes Lehrbeispiel menschenverachtender ausländerpolizeilichen Verhaltens.

     

    Leider ist es Realität, daß die Leiter von Ausländerbehörden durchweg äußer…- ok rechter Rand sind.( Ausnahmen - bitte melden). Und darin wie gesagt politisch gedeckt werden.

     

    Es dürfte in der deutschen Justizgeschichte einmalig sein,

    daß ein zuständiger Asylsenat eines OVG eines Flächenstaates nach der Schleifung des Asylrechts sich veranlaßt sieht, regelmäßig die zugehörige Ausländerakte durchforstet und ins Urteil/Beschluß/Protokoll all das reinschreibt, was die Ausländerbehörde! NICHT darf.

    Noch Fragen?

  • T
    tommy

    Was ich bei dem Fall nicht verstehe, ist, wieso der junge Mann als lettischer Staatsbürger (oder war er staatenlos? Russischer Staatsbürger? Hätte er lettischer Staatsbürger werden können?) - also eines EU-Lands - in dieser Form von Abschiebung bedroht war. Genauere Informationen erhält man aber hierzu natürlich nicht, es geht ja wie immer nur um Emotionalisierung und Instrumentalisierung.