Syrische Community in Leipzig: Nicht geflüchtet
Einige Syrer leben seit vielen Jahren in Leipzig. Doch mit den neu ankommenden Flüchtlingen ändert sich auch der Blick auf sie.
Kosai Abd Alrahman ist einer von ihnen. Seine Buchhandlung befindet sich im Stadtteil Plagwitz, drückt sich da in die schmale Ecke eines malerischen Altbaus. In Hogwarts, der Schule von Harry Potter, gibt es einen Raum, der sich den tiefsten Bedürfnissen des Suchenden anpasst. Für denjenigen, der ganz dringend aufs Klo muss, wird er zur Toilette; wer ein Versteck benötigt, entdeckt einen Besenschrank. Jemand, der sich wünscht, nie wieder mit dem Lesen aufzuhören, würde in Alrahmans Buchhandlung landen.
Auf jeder erdenklichen Fläche stapeln sich Bücher – Dutzende, Tausende und Abertausende. Regalbretter knarzen und biegen sich vorwurfsvoll unter der Last großer Literaten. Über und über vollgestopft ist der kleine Laden, antike Blechschilder lehnen an der Wand, Gläser mit Pflaumen stapeln sich am Fenster, altes Messingbesteck liegt zusammengewürfelt in Emaillewannen. „Nur ein Verrückter, der viel liest, kann so etwas schaffen“, sagt Alrahman in einer Mischung aus arabischem Akzent und Sächsisch.
Im Jahr 1985 reiste Alrahman von Dschabla an Syriens Mittelmeerküste nach Dresden, bald zog er weiter nach Leipzig. Er erhielt ein Stipendium, studierte Elektrotechnik. Bereits seit den 1950er- und 1960er-Jahren war die DDR auf der Suche nach arabischen Verbündeten. Syrien war das erste Land der arabischen Welt, in dem die DDR 1956 ein Generalkonsulat eröffnete. Der Sechstagekrieg 1967 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn brachte die DDR außenpolitisch immens voran: Nachdem sich Ostberlin im Krieg auf die arabische Seite gestellt hatte, erkannten 1969 neben Syrien auch der Irak, Ägypten, Jemen und Sudan die DDR diplomatisch an.
Wie aus einer Kinderfantasie
„Mich hat dieses kleine Land neben dem großen Westen fasziniert“, sagt Alrahman. Sozialistische Literatur hatte er bereits in Syrien gelesen, jetzt wollte er den Sozialismus leben. Der damals 19-Jährige wollte weg – und hinein in eine Welt, die viele andere nicht mehr hinausließ. Einfluss genommen auf ihre jungen arabischen Freunde habe die DDR-Führung nie, „bei mir zumindest nicht“, sagt Alrahman mit seiner kratzigen Stimme. Seine Sätze beginnen immer ein bisschen zu laut und enden zu leise. In dem sozialistischen Staat habe Alrahman sich wohlgefühlt, bis zum Schluss.
Volksbuchhandlung Buch + Antik von Kosai Abd Alrahman, Karl-Heine-Straße 44. Geöffnet von Montag bis Freitag, 11 bis 18 Uhr und am Samstag 11 bis 16 Uhr. Kontakt: (03 41) 2 30 62 98; volksbuchhandlung@gmx.de.
Seinen Laden eröffnete er 2005, zunächst mit Büchern, die er noch zu Hause hatte, heute kauft er Bücher und antike Utensilien aus der DDR-Zeit an. „Dann hab ich ma' ein paar Regale gekauft“. Dieses „ma‘“ nutzt der 50-Jährige häufig. Dadurch klingt alles ein bisschen weniger schlimm oder aufwendig, als es in Wirklichkeit war.
Schon als Kind habe er sich gewünscht, „ma'“ so einen Laden zu besitzen. Tatsächlich sieht der 50-Jährige Alrahman mit seinem dichten, nach unten gezwirbelten rotblonden Bart genauso aus, wie sich ein Kind einen alten Mann inmitten von Büchern vorstellt. „Menschen bleiben am Schaufenster stehen und erinnern sich. Sie sagen dann ‚Das kenne ich noch‘, ‚Das haben wir auch gehabt‘ oder ‚Das haben wir immer getrunken‘“, sagt Alrahman, steht plötzlich auf und kramt einen alten FDJ-Plastikbeutel hervor. „Das ist nicht einfach ein Plastikbeutel. Das ist Kulturgeschichte.“ Kosai Abd Alrahman ist ein sächsischer Syrer, der Leipzig an seine Vergangenheit erinnert.
Der halb so alte Akeel Sandouk kennt Alrahmans Laden und sagt: „Er hat dafür gesorgt, dass vor allem während der Krise viel syrische Literatur nach Leipzig kam.“ Damit die Menschen sehen, dass Syrien mehr ist als nur Bürgerkrieg. Seit Jahren engagiert sich der 26-Jährige, der bereits vor dem Krieg in seinem Land mit einem Austauschprogramm nach Leipzig kam, in der Flüchtlingshilfe. Seinen Bachelor in Wirtschaft beendete er noch in Damaskus, der Master in Leipzig folgte. Eine syrische Community in Leipzig existierte schon lange vor der aktuellen Flüchtlingsbewegung, sagt er. Zu ihr gehörten auch Lyriker, Intellektuelle, Ärzte.
Sandouk ist Mitgründer der Initiative Efgil (Engagiert für Geflüchtete in Leipzig), lebt in einer WG mit zwei Frauen und zwei Männern, hat „Momo“ und „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ im Regal stehen. Auch er ist kein Geflüchteter, unterstellt wird es ihm jedoch häufig. „Geflüchteter zu sein ist natürlich keine schlechte Sache“, sagt er, „aber es ist ein Attribut, das die Wahrnehmung einschränkt.“ Man würde nur noch nach Flucht und Krieg gefragt. Es verstelle den Blick auf das, was Menschen ansonsten ausmacht: der Beruf, eine Leidenschaft, ein Hobby. „Ich wünsche mir, dass wir differenzierter betrachtet werden.“ Es lohne sich, versichert er.
Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.
Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de
Engagiert in Politik und Kultur
Denn da sei einer wie Aziz Bachouri, seit elf Jahren in Deutschland, seit sieben in Leipzig. Im Jahr 2013 erhielt er ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung, ist in der SPD engagiert. Vergangenen Donnerstag wurde er zum zweiten Mal mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden der AG Migration und Vielfalt des SPD-Stadtverbands gewählt, seit September ist er deutscher Staatsbürger. Bereits 2010, also kurz nachdem er überhaupt in Deutschland angekommen war, wies er gemeinsam mit dem Antidiskriminierungsbüro Sachsen mehreren Leipziger Clubs diskriminierende Einlasskontrollen nach. Heute erzählt er bedrückt: „Früher fanden es Menschen cool und besonders, wenn ich erzählt habe, dass ich aus Syrien komme. Jetzt schrillen bei ihnen sofort die Alarmglocken.“
Der syrische Lyriker Adel Karasholi sagt: „Städte, in denen man lange lebt, sind wie Biografien. Meine Biografie ist von zwei Städten geprägt und mit ihnen verwachsen: Leipzig und Damaskus.“ Der 80-jährige Karasholi ist ein einnehmend freundlicher Mann mit tiefen Grübchen im wettergegerbten Gesicht. Mit 25 Jahren kam er nach Deutschland, seine selbst gegründete Zeitschrift war in Damaskus verboten worden. 1961 ließ er sich endgültig in Leipzig nieder.
Was und wo Heimat ist, damit beschäftigt sich Karasholi in seinen Essays und Gedichten. Sein Urgroßvater war aus einem kurdischen Dorf in der Türkei nach Syrien eingewandert, wie er selbst drei Generationen später in die DDR. Über seine eigene Urenkelin Elly-Valentina sagt er heute: „Sie gehört zu der vierten Generation meiner Leipziger Nachkommenschaft. Und sie wird genau wie ich und wie alle Urenkel der Flüchtlinge, Vertriebenen und Einwanderer in der langen Geschichte der Menschheit ihren eigenen Lebenstext schreiben. Und das ist gut so.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland