Syrien nach dem Erdbeben: Mit Krebs in Idlib

Früher ließen sich Krebs­pa­ti­en­t*in­nen aus Nordwest-Syrien in türkischen Krankenhäusern behandeln. Seit dem Erdbeben ist die Grenze für sie dicht.

Krebspatient Ibrahim al-Omar liegt auf einem Bett mit einer Kanüle im Arm

Krebspatient Ibrahim al-Omar, hier in einem Krankenhaus in Idlib-Stadt Foto: Moawia Atrash

IDLIB taz | Es ist eine weitere Tragödie, die zu den vielen Tragödien der Syrerinnen und Syrer hinzukommt: Seit dem Erdbeben vom 6. Februar können syrische Krebs­pa­ti­en­t*in­nen nicht mehr über die Grenze in die Türkei einreisen, um sich behandeln zu lassen. Nach dem Beben, das vor allem den Nordwesten Syriens und die Südtürkei erschütterte, setzten die türkischen Behörden die Einreisegenehmigungen aus. Der Druck, den die Katastrophe auf die türkischen Krankenhäuser ausübte, war zu groß.

Im Nordwesten Syriens, der nicht von der Assad-Regierung in Damaskus, sondern von Aufständischen kontrolliert wird, stand der Gesundheitssektor auch bereits vor dem Erdbeben aufgrund des seit 12 Jahren andauernden Kriegs unter Druck. Neue Zerstörungen in den Krankenhäusern und ein Mangel an Medikamenten verschärfen die Lage nun zusätzlich.

Im Zentralkrankenhaus von Idlib-Stadt gibt es ein spezielles Zentrum für Hämatologie und Onkologie. Das Krankenhaus, das von der Hilfsorganisation Syrian American Medical Association (SAMS) unterstützt wird, bietet kostenlose Behandlungen an und verfügt über eine spezielle Abteilung für Onkologie. Doch das Zentrum ist überlastet und hat Mühe, die Patienten angemessen zu behandeln. Chemotherapeutika sind knapp, einige Arten gar nicht erhältlich. Besonders teure Therapien können in der Regel nicht durchgeführt werden. Auch Strahlentherapie ist nur begrenzt möglich.

Auf der Männerstation der onkologischen Abteilung ist das leise Stöhnen einiger Patienten zu hören. Ibrahim Ahmed al-Omar liegt auf seinem Bett neben einem Fenster, das den Blick freigibt auf eine Hauptverkehrsstraße. Wie so viele im Nordwesten Syriens ist al-Omar ein Binnenvertriebener. Der heute 60-Jährige musste aus dem Umland der zentralsyrischen Stadt Hama fliehen und fand Zuflucht in Idlib.

Geberkonferenz: Die internationale Gemeinschaft hat sieben Milliarden Euro für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei mobilisiert. Das sagte Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson am Montag nach einer Geberkonferenz in Brüssel. Gemeinsam habe man die Erwartungen übertroffen, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Wenn es zu einer Tragödie kommt, gibt es nur eine Antwort, und das ist Solidarität.“

Deutschland & EU: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte schon vor Beginn der Konferenz weitere Hilfe zugesagt: „Wir verdoppeln heute unsere Unterstützung auf 240 Millionen Euro“. Die Europäische Kommission sagte der Türkei und Syrien zusammen mehr als 1,1 Milliarden Euro zu.

Nachhaltigkeit: Die Welthungerhilfe hat langfristige Unterstützung gefordert. Die Konferenz müsse „ein Zeichen senden, damit wir diese humanitäre Dauerkrise endlich beenden können“, forderte Generalsekretär Mathias Mogge. Es würden Gelder benötigt, die flexibel eingesetzt werden könnten, um auch strukturelle Defizite lindern zu können. Dafür seien Investitionen in den Wiederaufbau unter Einbindung von lokalen Akteuren nötig. (taz, dpa)

„Ich leide seit Langem an einer Dickdarmerkrankung und musste den Dickdarm entfernen zu lassen, dabei wurde ein Krebstumor entdeckt“, erzählt al-Omar. „Ich wurde in die Türkei überwiesen und begann, Chemotherapie zu erhalten, die in unserer Region nicht immer verfügbar ist. Aber wegen des Erdbebens kann ich jetzt nicht mehr in die Türkei fahren.“

Er brauche die Chemodosen monatlich, sagt al-Omar, habe aber große Schwierigkeiten, sie zu beschaffen, da seine finanziellen Möglichkeiten begrenzt seien. „Wenn der Grenzübergang weiter geschlossen bleibt und die Dosen in Syrien knapp werden, muss ich meine Behandlung abbrechen“, fürchtet er.

150 Tumordiagnosen pro Monat

„Unser Zentrum bietet kostenlose Chemotherapie für sechs Krebsarten an“, erklärt Ayham Jamo, Hämatologe an dem Krankenhaus, an dem monatlich etwa 700 Dosen verabreicht und etwa 150 Tumordiagnosen neu gestellt würden. Er fordert: „Wir brauchen Unterstützung, damit wir Chemodosen und Immuntherapie für alle Arten von Krebs sicherstellen können.“

Nach der Erdbebenkatastrophe, erzählt Jamo, seien viele Patienten, die vorher in der Türkei behandelt wurden, nach Syrien zurückgekehrt. Nun mangele es an Chemodosen. Außerdem seien viele medizinische Unterlagen, die für die Behandlung notwendig seien, in den Trümmern der zerstörten Häuser verlorengegangen.

Vierzig Kilometer weiter nördlich, an der Grenze zur Türkei, arbeitet Baschir al-Ismail, Leiter des medizinischen Koordinationsbüros am Grenzübergang Bab Al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien. „Vor dem Erdbeben kamen täglich etwa 10 Notfallpatienten und rund 450 Fälle, die keine Notfälle waren, zur Behandlung in die Türkei“, erzählt er. Unter Letzteren waren auch die Krebspatient*innen. „Seit dem Erdbeben sind keine Kranken mehr eingereist.“ Die Beendigung der Einreiseerlaubnis für syrische Krebs­pa­ti­en­t*in­nen erklärt er sich damit, dass das Erdbeben auch dem Gesundheitssektor in der Türkei schwer zugesetzt habe.

Wann die Grenze für die Krebs­pa­ti­en­t*in­nen aus Syrien wieder geöffnet wird und ob die Krankenhäuser auf türkischer Seite dann wieder in der Lage sein werden, sie zu behandeln, ist unklar. Vorerst müssen die Pa­ti­en­t*in­nen im Nordwesten Syriens mit dem mangelhaften Gesundheitssystem Idlibs vorlieb nehmen.

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