Susanne Memarnia hat viel über die „Rote Insel“ gelernt: Wie zu viel Recherche fast eine Geschichte kaputt macht
Vor langer Zeit mag die „Rote Insel“ in Schöneberg ein ärmlicher, zwischen Bahnlinien eingequetschter Arbeiterbezirk gewesen sein, in dem traditionell „rot“ gewählt wurde und es die SA fast so schwer hatte wie im „Roten Wedding“. Heute ist die Rote Insel ein Weinverein und -lokal im Herzen des Viertels, wo sich das (grün-)liberale Bürgertum trifft. Am Donnerstagmittag zum Beispiel bei Jazzmusik und Käsehappen zur Eröffnung der „Inseltour“ – einem historischen Stadtrundgang durch das Viertel.
Hier kann man lernen: Die Insel hat tatsächlich einiges zu bieten, auch abseits des hässlichen Gasometers, der früher den Insulanern Licht und Luft nahm und heute mit dem Euref-Campus ein – wie manche sagen dubioses – Modell für die Energiewende sein soll. Manches, was die Inseltour, bestehend aus 19 Infotafeln mit Abbildungen und kurzen Texten, thematisiert, ist zwar bekannt. Etwa, dass in der heutigen Leberstraße 65 Marlene Dietrich geboren wurde.
Anderes, ebenso Interessantes wird nicht erwähnt, etwa, dass auch Hildegard Knef einige Jahre ihrer Kindheit hier verbrachte. „Die Auswahl war pragmatisch“, erklärt Kuratorin Johanna Muschelknauz bei der Eröffnung. Man habe nun mal nicht alles unterbringen können, schon so sei der Rundgang zwei bis zweieinhalb Stunden lang.
Als Kohlenhändler getarnt
Doch die historische Forschung für das Projekt hat auch Überraschendes zu Tage befördert. Etwa, dass Station 10 der Tour – der Alfred-Lion-Steg, ein Fußweg über die östlichen Gleisanlagen – eigentlich gar nicht so heißen dürfte. Bei der Recherche habe man nämlich herausgefunden, so die Kuratorin, dass Lion – der als Jude vor den Nazis fliehen musste und später Gründer des weltbekannten Jazz-Plattenlabels „Blue Note“ wurde – nicht, wie bislang alle glaubten, in der Gotenstraße 7 geboren wurde, sondern in Friedenau. „Aber egal“, lacht Muschelknauz – natürlich bleibe Lion dennoch ein berühmter Sohn der Insel.
Gleiches gilt für Julius Leber, den NS-Widerständler, der von 1937 bis zu seiner erneuten Verhaftung 1944 als Kohlenhändler getarnt in der Torgauer Straße lebte, wobei er die Kohlenhandlung für konspirative Aktionen nutzte. Nach ihm sind Leberstraße und Julius-Leber-Brücke benannt, auf der Tour begegnet man ihm an Station 13.
Allerdings bestehen die Stationen wie gesagt aus nichts mehr als knappen Infotafeln. Und so wirkt das Lob von Stadtrat Jörn Oltmann (Grüne) bei der Eröffnung doch leicht übertrieben, wenn er sagt, die Tour mache „ehemals historische Orte erlebbar“, etwa „als sich Julius Leber und seine Freunde hier getroffen haben“. Aber ein schöner Spaziergang ist es schon.
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