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Die WahrheitDas Gemüseritual

Bringt es Glück, an Neujahr in Ermangelung von Berliner Pfannkuchen Muffins zu verzehren? Oder ist es eher genau umgekehrt? An was wollen wir glauben?

D ings sei dank liegt die Zeit der ausufernden Rituale wieder hinter uns. Ein Soziologe hat mich einmal glaubwürdig darüber unterrichtet, dass sie wichtig seien für die Gesellschaft oder so, aber was, frage ich, fängt die Gesellschaft mit meiner Post-Silvester-Magenübersäuerung jetzt genau an? Und wäre eine leichte Gemüsepfanne mit stillem Wasser nicht eine tolle Alternative zu rotweindurchflossenem Raclette-Verzehr? Nö, offenbar nicht.

An irgendwas muss man ja glauben, wie bekennende Esoterikerinnen auf allen Kanälen versichern, also ich dann ans Rac­lette. Neuerdings sind jedoch Raunacht-Rituale angesagt, da kann man dem Aberglauben gleich für ein Dutzend Tage folgen und seine Bude jeden Abend anders ausräuchern, während man Verwünschungen für das kommende Jahr murmelt. Oder waren es Wünsche? Egal, in unserem Haus nebeln sowieso nur die letzten Raucher. Ob bei E-Zigarettendampf geäußerte AfD-Zerstäubungsfantasien irgendwas bewirken, konnte bisher nicht geklärt werden, aber versuchen kann man es ja mal.

Gemüsesehnsucht ist ein hierzulande beliebtes Januarritual. Ebenso wie die Versammlung der No-Sports-Fraktion in meinem Fitnessstudio, die ab dem zweiten Januar staunend und mit wichtiger Miene vor den Geräten steht, die ihr Leben ändern sollen, aber möglichst ohne allzu intensive Bemühungen ihrerseits. Das hält die Wirtschaft am Laufen und mein Fitnessstudio fit. Im März habe ich dann wieder Ruhe auf dem schicken neuen Crosstrainer, der von den vielen ungenutzten Verträgen mitfinanziert wird.

Pfannkuchen, Pfannkuchen müssen her

Vor das Januargemüse hat der Herrgott den Pfannkuchen gesetzt. Ohne Berliner Pfannkuchen an Neujahr wären die folgenden zwölf Monate im Eimer, das kann niemand wollen. Weil ich das Ausschlafritual auf Silvester vorverlegt hatte, war nur ein entspannter Mittagseinkauf mit den anderen letzten trüben Tassen möglich. Berliner gab es dann allerdings nicht mehr in den immerhin drei Dorfbäckereien, deren Regale überhaupt so leergekauft waren, als seien Backwaren und nicht Böller die Hauptattraktion zu Silvester.

Ich erzählte dem Liebsten, dass es sehr viel Glück bringen werde, an Neujahr Muffins zu verzehren, wenn man nur schlau genug sei, dem Pfannkuchenwahn durch Extremschlaf zu entkommen. Das sei ein uns bisher nicht bekanntes Ritual aus der Südheide, was auf das Jahr 2025 erstmals Anwendung finde. Am Ende, zwitscherte ich, warteten vielleicht Ruhm und Reichtum, auf jeden Fall aber ein Raclette.

Was soll ich sagen, er schaute ungefähr so gläubig wie ich, als meine Yogalehrerin zum Jahresende unseren Kurs anspornte, bis zum nächsten Silvester die Kondition für 108 Sonnengrüße hintereinander ohne Pause zu erwerben. Das bringe dann Glück. Ich glaube, dass ich das gar nicht brauche, weil sie nämlich schon vorher den Raum ausgeräuchert hatte. Mehr Glück kann ich auf keinen Fall vertragen.

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Susanne Fischer
Autorin
Susanne Fischer schreibt Romane und Kinderbücher und arbeitet als Geschäftsführender Vorstand der Arno Schmidt Stiftung und des Deutschen Literaturfonds e.V., letzteres ehrenamtlich. (FOTO: THOMAS MÜLLER)
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