Suizid von DJ Avicii: Nur mal eben vor die Tür

Die Ausstellung „Avicii Experience“ will nicht nur erinnern, sondern unterhalten und über psychische Gesundheit aufklären. Kann das gelingen?

Der Künstler Avicii sitzt auf einem Stuhl, schaut direkt in die Kamera. Er verstarb 2018

Die Karriere von Tim Bergling, Künstlername Avicii, begann schon mit 16 Jahren Foto: Sean Eriksson/Universal Music

Kautabakdosen, die bis zur Decke reichen. Ein Computerbildschirm, auf dem World of Warcraft läuft. Es scheint, als ob der Jugendliche, dem dieses Zimmer gehört, nur mal eben vor die Tür ist, vielleicht, um sich noch eine Dose Kautabak zu kaufen. Dabei gehört dieses Kinderzimmer einem der größten Superstars Schwedens. Es befindet sich in einer Ausstellung in Stockholm, die in diesen Tagen eröffnet.

Die Ausstellung mit dem Namen „Avicii Experience“ erinnert an Tim Bergling, besser bekannt unter dem Künstlernamen Avicii. Als DJ ist er besonders für Songs wie „Hey Brother“ und „Wake Me Up“ bekannt. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, im April 2018, nimmt sich Bergling das Leben. Zu dem Zeitpunkt ist er 28 Jahre alt. Der Suizid Berglings stößt eine Debatte über die mediale Ausschlachtung des Themas Suizid an. Nach seinem Suizid spekulieren Boulevardmedien über die Todesursache und -methode, ohne dass dazu offizielle Informationen vorlagen.

Die Ausstellung in Stockholm konzentriert sich nicht nur auf die psychische Gesundheit des DJs, sondern will Be­su­che­r:in­nen gleichzeitig durch interaktive Inhalte unterhalten. Wie passt das also zusammen, eine Ausstellung über Entertainment und psychische Gesundheit? Wie erinnert man an Avicii, ohne in die Privatsphäre Tim Berglings und seiner Hinterbliebenen einzugreifen? Diese Fragen dürften sich Lisa Halling-Aadland und ihre Kolleginnen beim Kuratieren der Ausstellung gestellt haben. „Für uns ist es sehr wichtig, dass wir auch die Freude und den Spaß am Musikmachen vermitteln“, erklärt sie bereits zu Beginn des Rundganges durch die Ausstellung. Mit VR-Karaoke und digitalen Mischpulten lädt die Präsentation zum Mitmachen ein.

Knapp drei Jahre lang haben Halling-Aadland und ihr Team an der Ausstellung gearbeitet. „Die größte Aufgabe bestand darin, eine Balance darin zu finden, die Integrität für seine Familie zu wahren und Fans und Besuchern etwas zu geben, das sie lernen und erfahren können“, erklärt Halling-Aadland. Um die Privatsphäre des Künstlers und seiner Angehörigen zu respektieren, hat das Ausstellungsteam eng mit der Familie kooperiert und für alle Exponate Rücksprache gehalten. Die Familie hat Gegenstände und Instrumente zur Verfügung gestellt sowie sich in Interviews zu Wort gemeldet.

Welttourneen und goldene Schallplatten

Gleichermaßen detailreich wie intim rekonstruiert die Ausstellung das Leben und die Karriere Berglings, von seinen Anfängen in Stockholm bis zu seinem Suizid. Ein Rundgang durch die Ausstellung dauert rund eine Stunde, mit Videomaterial noch länger. Das Kinderzimmer ist die erste Station der Ausstellung. Bergling wächst wohlbehütet im gutbürgerlichen Stockholmer Stadtteil Östermalm auf. Mit 16 Jahren bastelt Bergling an ersten Sounds und Remixen, die er auf Soundcloud hochlädt. Wenig später wird er von seinem späteren Manager kontaktiert, bald folgen erste kleinere Auftritte im Stockholmer Umland.

Mit 21 Jahren veröffentlicht Bergling seinen Song „Levels“, der in sämtlichen Ländern die Charts stürmt. Danach geht es stetig bergauf für ihn, er geht auf Welttourneen, erhält goldene Schallplatten, arbeitet mit Nile Rodgers oder Coldplay zusammen. Seinen rasanten Aufstieg zeigt die Ausstellung mithilfe von exklusiven Remixen und Demos und Instrumenten sowie umfangreichen Interviews mit Weggefährt:innen.

Ein Ausstellungsraum zeigt diese Zeit aus der Perspektive Berglings, mit Aufnahmen von Paparazzi wie hysterischen Fans. Während seiner kräftezehrenden Tourneen macht der Erfolg dem Künstler zunehmend zu schaffen. Er wird alkohol- und drogenabhängig, hat dazu mit schweren körperlichen Leiden zu kämpfen. Auf seiner Welttournee im Jahr 2014 wird er aufgrund einer Bauchspeicheldrüsenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert, trotz Schmerzmedikation motiviert ihn sein Team, die Tour fortzusetzen. Im Jahr 2016 kündigt er an, aufgrund seiner psychischen wie körperlichen Probleme nicht mehr auf Tour gehen zu wollen.

Einsamkeitt und schlaflose Nächte

Von seinen Managern wird er damals nur wenig verstanden, wie die Dokumentation „Avicii: True Stories“ aus dem Jahr 2017 zeigt. Während seiner Karriere absolviert Bergling 813 Auftritte, zum Teil 250 DJ-Sets pro Jahr. Wie anstrengend der Alltag als DJ ist, berichten mittlerweile auch immer mehr andere Künst­le­r:in­nen wie Peggy Gou oder Marie Davidson. Schuld daran ist vor allem der dicht getaktete Touringrhythmus, durch den DJs an einem Wochenende in verschiedensten Ländern auflegen müssen. Jet Lag, Einsamkeit und schlaflose Nächte inbegriffen.

„Das Touring sieht im elektronischen Musikbusiness anders aus. Als elektronischer Künstler bist du alleine unterwegs und es gibt niemanden, mit dem du das durchsprechen kannst, wo man sozialen Rückhalt hat. Das ist ein besonderer Risiko- und Stressfaktor für elektronische Künstler“, erklärt Michael Wecker, niedergelassener Therapeut und Mitgründer des Verbandes Mental Health in Music. Als deutsche Anlaufstelle für das Thema psychische Gesundheit in der Musikindustrie bieten Wecker und seine Kolleginnen Mu­si­ke­r:in­nen professionelle Hilfe und klären mithilfe von Workshops und Vorträgen über das Thema auf. Pro Monat melden sich zwanzig bis dreißig Mu­si­ke­r:in­nen bei der Initiative, um das Hilfsangebot in Anspruch zu nehmen. Häufige Probleme sind Stimmungs- und Arbeitsprobleme, Ängste und Sorgen. „Die Arbeit in der Branche konfrontiert einen mit einem recht ungesunden Lebensstil, was Arbeitszeiten, Stress, Arbeitsbedingungen im Allgemeinen angeht“, so Wecker.

Auch Berglings Angehörige haben eine eigene Initiative gegründet, die Tim Bergling Foundation. Sein Vater spricht auf Konferenzen, zudem veranstaltet die Organisation Konzerte im Raum Stockholm, deren Einnahmen an die Stiftung gespendet werden. Das letzte fand im Dezember in der größten Konzertarena Stockholms statt, die erst im vergangenen Jahr in „Avicii Arena“ umbenannt wurde. Das Charity-Konzert der Stiftung wird auch als 360-Grad-Video in der Ausstellung gezeigt. Hier wird deutlich, dass Trauer und Freude sich im Falle von Berglings Tod nicht ausschließen müssen. „Wir wollen sowohl der Dankbarkeit für seine Musik wie der Traurigkeit über seinen Tod einen Raum bieten“, erklärt Halling-Aadland während der Führung durch das Museum.

Noch längst nicht entstigmatisiert

Die Ausstellung präsentiert nicht nur die Erfolge des Künstlers. Sie zeigt auch, dass Avicii lange an Depressionen und Angststörungen litt und ungerne im Rampenlicht stand. Die Kuratorinnen grenzen dabei die Privatperson Bergling von der Künstlerperson Avicii ab. Die Verwechslung zwischen Künst­le­r:in und Privatperson benennt Wecker als weiteren Risikofaktor für psychische Krankheiten. „Junge Künstler sehen es als ihre Aufgabe, per Social Media ganz viel zu liefern. Aus meiner distanzierten Sicht sehe ich da sehr viele ungesunde Aspekte. Man braucht einen Rückzugsort, wo man mit seinen Themen nicht nur in der Öffentlichkeit steht.“ Hier liegt laut ihm auch die Verantwortung bei den Fans, dies zu respektieren.

Aber wie ist die Privatsphäre von verstorbenen Personen wie Avicii reguliert? Im Falle eines Todes können die Angehörigen die Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen wahrnehmen. Die Entscheidung, eine Avicii-Ausstellung zu eröffnen, lag also bei der Familie Berglings. Ob eine eigene Ausstellung auch im Interesse des Künstlers gewesen wäre, lässt sich nicht beantworten.

Nichtsdestotrotz sendet die Ausstellung sowohl an Avicii-Fans wie Nicht-Fans eine wichtige Botschaft. Sie zeigt, dass das Thema psychische Krankheiten im Musikbusiness noch längst nicht entstigmatisiert ist und dass es gleichermaßen Initiativen von Ex­per­t:in­nen wie Kreativen innerhalb der Musikindustrie bedarf, um dies zu ändern. „Aviciis Suizid hat mehr mediale Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt, trotzdem ist da noch ganz viel zu tun“, schlussfolgert auch Wecker. „Ohne Aufklärung geht es gar nicht, es müssen Informationen verfügbar sein, es braucht Initiativen sowie Vereine und Verbände, die sich darum kümmern. Es braucht aber auch die Branche, die sagt, das ist ein wichtiges Thema, wir wollen die Leute schützen, mit denen wir Geld verdienen.“ Die Ausstellung und die Initiative der Bergling-Familie bieten dabei zumindest einen Anfang.

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