Dasvergessene Quartier

Die Südliche Friedrichstadt ist ein Kiez voller Widersprüche und Konflikte: An der ewigen Baustelle am Mehringplatz treffen Ärmere und Zugezogene aufeinander, soziale Infrastruktur weicht Investorenplänen. Die Schriftstellerin Manja Präkels lebt dort seit vielen Jahren und wundert sich nicht mehr, wenn mal eine Bierflasche aus dem Fenster fliegt. Eine Welt im Widerhall

Das Quartier Südliche Friedrichstadt reicht vom Halleschem Ufer über den Mehringplatz bis zum Besselpark am südlichen Ende der Friedrichstraße Foto: Foto:Sebastian Wells/Ostkreuz

Von Manja Präkels

Wir leben in einer Schlucht. Das Heulen des Windes, wenn er zwischen den Hochhäusern hindurchfegt, wird begleitet von Verwirbelungen. Ich habe einen Luftballon im Zickzackkurs bis hoch in die 17. Etage fliegen sehen. Oder war es eine Plastiktüte? Der Mond ist heller dort oben. Wenn unten, vorm Edeka, ein Hund bellt, klingt es, als säße er uns zu Füßen.

Am erwachenden Morgen rauschen die Straßen ringsum wie das Meer. Kehrfahrzeuge schieben Laub und Müll vor sich her. Es ist besser, die Fenster zu schließen. Sonst kann es vorkommen, dass ein Stück von letzter Nacht hereinfliegt. Eine Kippe vielleicht. Oder ein Kondom.

Vor vielen Jahren, ich war gerade erst in der Stadt angekommen, fuhr ich täglich von Pankow nach Dahlem und zurück. Dass die U1 ab Warschauer Straße als Hochbahn durch Kreuzberg führt, verkürzte den langen Weg erheblich. Ich, die an leere Landschaften gewöhnte Exilbrandenburgerin, schaute und staunte. Am Halleschen Tor blieb mein Blick stets am Rondell kleben, dem Mehringplatz-Ensemble mit seinen geschwungenen Balkonen, unter denen die Leute durchliefen. Dahinter Hochhäuser, wie sie auch am Springpfuhl in den Himmel ragen, Wohnkomplexe, in die ganze Kleinstädte passen. Irgendwo stand immer einer und pisste in die Büsche. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, dort zu wohnen. In der ruppigen Mitte der Stadt.

Dann zog ich tatsächlich hierher. Mein zweites Hochhaus nach missglücktem Frühversuch in Marzahn. Kein Kohlenschleppen mehr wie in Pankow, vorbei die Zeit des improvisierten Duschens in der Küche, stattdessen: ein Balkon.

Manchmal wirft einer von ganz oben einen Joint achtlos runter, manchmal schmeißen die Kinder Spielsachen über die Brüstung. Unter uns, auf dem Vorbau, liegen dann Lichtschwerter oder Bälle. Selbst Spielkonsolen wurden schon gesichtet, Kochtöpfe und zerschlagenes Geschirr. Die Markise schützt vor herabfallenden Bierflaschen. Ich habe mich daran gewöhnt. Der Stoff kann was ab. So wie die Leute, die hier wohnen. Beim Flanieren im Rondell: verächtliche Blicke, misstrauische. Auch stolze: Wir sind nicht wie ihr. Im Fahrstuhl das Westberliner Rentnerpaar: „Endlich sieht man mal eine Deutsche.“ Mir fällt vor Schreck keine Entgegnung ein.

Als ein Freund aus Krakau zu Besuch kommt, ist er sich nicht sicher, ob er die Kippa besser abnehmen sollte. Am Vorabend war er beim Spaziergang durch Neukölln übel bedroht worden. Ich erzähle ihm von den Jungs, die vor dem Supermarkt auf Macker machen und die Häuserschlucht allabendlich als Bühne nutzen. Ein paar von denen grüßen mich, aber nur, wenn sie allein sind.

Auch unser schwuler Nachbar hatte anfangs Angst. „Aber alles in allem liebe ich es, hier zu wohnen.“ In einer Nachbarschaft, deren Mischung die weltweiten Verteilungskämpfe und kriegerischen Konflikte der letzten Jahrzehnte abbildet. Jüdische Rentner aus der ehemaligen Sowjetunion Tür an Tür mit Palästinensern, Roma, vor dem Krieg in Jugoslawien geflohenen Serben und Bosniern. „Wir Türken waren zuerst hier“, erklärt mir ein Hundebesitzer, während sich unsere Tiere über den Platz jagen. Ein anderer, geboren in Moskau, schimpft auf „die Araber“, die im Sommer alle Parks verstopfen würden. Eine Shisha rauchende Omi lächelt uns dabei von ihrer Parkbank zu. Das Kopftuch betont ihre hellen Augen.

Mein allererstes Gespräch mit einer Nachbarin führte ich am Hauseingang, wo damals noch ein Bild der zerbombten Südlichen Friedrichstadt hing. Wir versuchten, uns zwischen den Trümmern zu orientieren: „Das muss der Mehringplatz sein!“ Sie lachte und sagte: „Wie Bagdad.“

Das städtische Gefüge zerbricht. Man kann es spüren wie die Vibration der U6 unter den Füßen

Und heute? Der Mehringplatz eine ewige Baustelle. Verwüstet. Verelendet. Das infernalische Gebrüll der Trinker und haltlosen Jugendlichen begleitet unser aller Nächte wie Eiszapfen in den Ohren. Dagegen die neu entstandenen Lebenswelten gleich nebenan. Wo vor den Neubauten junge Eichen und hübsche Beete gepflanzt werden. „Kein Hundeklo“ steht auf einem Schild. Für Hunde unlesbar. Die neu eröffneten Cafés und Geschäfte gegenüber dem Jüdischen Museum sind für meine Nachbarn so unsichtbar wie sie für deren Kunden.

Das städtische Gefüge zerbricht. Man kann es spüren wie die Vibration der U6 unter den Füßen. Seit aus dem kleinen Kaiser’s Edeka geworden ist, gibt es am Fleischstand kein doppelt gewolftes Rindfleisch für Lahmacun mehr, dafür Schweinefüße.

Abends spendet der Markt Trost und Licht für alle, die nicht nach Hause wollen. Oder können. Im nächsten Jahr ist Schluss damit. Investoren, Pläne, Abriss. Das bestürzt, doch wundert sich längst niemand mehr. Seit wir eingezogen sind, macht Laden für Laden dicht. Erst der mit den günstigen Kleidern, dann die Raucherkneipe, das einzige Restaurant. Die Zerstörung solcher kleiner Welten geht schnell. Ihr Aufbau dauert Jahre. Aber Anfänge gibt es immer.

Ein Nachbarjunge ruft den Namen meines Hundes in die Schlucht hinein. Beide rennen aufeinander zu. Wir lachen. Mit Echo.

Schwerpunkt 44/45