Südafrika trauert um Erzbischof: Danke, Tata Tutu
Desmond Tutu inspiriert Südafrika bis heute: er stritt erst gegen Apartheid, dann für ein gerechteres Land. Ein persönlicher Rück- und Ausblick.
Plötzlich entsteht hinten im Saal ein Gerangel zwischen jungen Leuten und Polizisten. Tutu ruft: „Ah, unsere Polizei … früher haben sie uns verprügelt. Aber jetzt sind sie da, um uns zu schützen. Attackiert sie nicht. Sie haben unseren Beifall verdient!“ Und er beginnt zu klatschen. Die Situation ist entspannt.
Seinerzeit hatte ich das Privileg, Karin Chubb, die frühere Vizepräsidentin des Black Sash, der ehemals einzigen weißen Frauenorganisation gegen Apartheid in Südafrika, zu den Anhörungen der Wahrheitskommission in Kapstadt zu begleiten. Bis 1994 hatte ich ein Einreiseverbot für Südafrika, 1997 wurde ich dann erstmals vom Goethe-Institut zu Lesungen eingeladen.
Für die meisten von uns, die sich in den 1980er Jahren gegen Apartheid engagierten, war Erzbischof Desmond Mpilo Tutu – Friedensnobelpreisträger 1984, anglikanischer Erzbischof von Kapstadt seit 1986 – die wichtigste Stimme aus Südafrika, während Nelson Mandela noch bis 1990 zum Schweigen im Gefängnis verurteilt war. Tutus Aufrufe zum gewaltfreien Widerstand, zu Boykotten („Kauft keine Früchte aus Südafrika!“) inspirierten Millionen. Sein persönlicher Mut war unübersehbar – etwa einmal im Jahr 1985, als er sich gegen einen aufgebrachten Mob stellte, die einen möglichen Verräter aus den eigenen Reihen lynchen wollten.
Zur Zeit der Apartheid waren 60 Prozent der Todesopfer von politischer Gewalt jünger als 25 Jahre, etwa 100.000 Jugendliche saßen im Gefängnis. Südafrikas Wahrheitskommission, unter Tutus Vorsitz ab 1996, gab ihnen Achtung und Würde. Und es ging nicht nur um die Opfer, sondern auch um die Täter. So erklärte Tutu damals im Mai 1997 nach der Anhörung der Jugendlichen den Journalisten auf einer Pressekonferenz: „Bitte berichtet nicht nur über die Gräueltaten der Apartheid. Helft mit, zu verstehen, warum Männer, die sonst gute Familienväter sind, zu Folterern werden konnten.“
In seinem Vorwort zu Karin Chubbs und meinem Buch über die Jugend-Anhörungen der Kommission schrieb er 1999: „Oft wird gesagt, dass die Kinder unsere Hoffnung für morgen sind. Aber in Südafrika sind sie auch die Helden von gestern … Jetzt ist die Zeit, mit ihnen gemeinsam eine bessere Gesellschaft für uns alle zu schaffen.“
„Bist du der echte Tutu aus dem Fernsehen?“
Ein Jahr später berichtete ich ihm vom Plan einiger Aktivist*innen in einem Township südlich von Kapstadt, ein Haus für Kinder zu bauen, die alle erwachsenen Familienmitglieder an Aids verloren hatten und zum Teil selbst infiziert waren. „Macht das!“, sagt er. „Und wenn ihr es schafft, komme ich zur Eröffnung und segne euer Haus.“
Tatsächlich gelang es, auf einer ehemaligen Müllkippe in der Armensiedlung Masiphumelele ein Haus zu bauen, einen Garten und einen Spielplatz anzulegen und junge Erzieher*innen zu finden. Die Eröffnung war für den Welt-Aids-Tag 2002 geplant. Als ich in Tutus Büro anrief, antwortete seine Sekretärin bedauernd, dass der Erzbischof an diesem Tag schon ausgebucht sei. Dann eine kurze Mail von ihm: „Natürlich komme ich. Um 12 Uhr. Tata.“ Mit „Tata“, dem Xhosa-Wort für Vater, unterschrieb Tutu meist seine Mails.
Seit dem frühen Morgen halten an jenem 1. Dezember 2002 junge Leute Ausschau an der Einfahrt zum Township. Alle erwarten ein edles Auto mit Polizeibegleitung auf Motorrädern. Nichts davon. Am Ende wird sein einfacher Mittelklassewagen beinah übersehen. Ein kleines Mädchen erkennt ihn neben seinem Fahrer und ruft aufgeregt: „Tata Tutu!“ Dann rennen alle hinter dem Auto her, bis er vor unserem Kinderhaush hält.
Als Tutu aussteigt, schüttelt er zuerst die Hände der Kinder, die ihn begeistert umringen. Ein Junge fasst ungläubig an sein Bischofskleid und fragt: „Bist du der echte Tutu aus dem Fernsehen?“ Der Erzbischof lacht: „Ja, ich bin der lustige alte Mann aus dem Fernsehen!“
Und dann ist er da. Vor Hunderten Menschen, die ihm zum Teil von den Dächern ihrer Township-Hütten zuhören, ruft er in den Lautsprecher: „Früher haben wir gegen Apartheid gekämpft. Heute gilt unser Kampf Aids. Ihr, die ihr diesen Kindern helft und ihr, die ihr offen sagt, dass ihr HIV habt, seid heute unsere Heldinnen.“
Seitdem besuchte er uns immer mal wieder. 2008 kam er, weil es in Masiphumelele eine der ersten Aktionen gegen landesweite Fremdenfeindlichkeit gibt. 2009, als ich Morddrohungen erhielt, nachdem wir Veruntreuung von Geldern in einem Wohnungsbauprojekt bekannt gemacht hatten, schrieb er: „Dein Mut verdient Anerkennung. Bitte informiere mich, wenn ich helfen kann. Tata.“
Zu seinen Geburtstagsfeiern in der Westkap-Universität gingen wir jedes Jahr am 7. Oktober. Einmal lief ein Mädchen zu ihm in die erste Reihe, einfach um ihm die Hand zu schütteln. „Wissen Sie noch, woher ich komme?“, fragt sie und antwortet aufgeregt selbst: „Aus Masi!“ „Na klar, schöner Name!“, antwortete Tutu und umarmte sie. Das Xhosa-Wort Masiphumelele bedeutet: Wir werden es schaffen!
Tränen in den Augen
Als uns am vergangenen Sonntag die traurige Nachricht seines Todes erreichte, beteten alle Kleinen und Großen im Kinderhaus. Litha, 5, der ihn nur von Fotos an der Wand kennt, sang leise vor sich hin: „Ich habe dich lieb, Tata Tutu, so lieb.“
Wenig später traf ich Gesundheitsarbeiterin Noku M. auf der Straße. „So schlimm“, sagte die 56-Jährige und hat Tränen in den Augen. Sie erinnerte sich: „Er kam damals zu unserem Aufklärungstag gegen Tuberkulose. Und bevor er aufs Podium ging, bückte er sich und band die Schnürsenkel einer Patientin in der ersten Reihe. Und sagte zu ihr: Damit Sie nicht fallen!“
Menschenrechtsaktivistin Di Oliver, 72, erinnert sich an den 28. Dezember 1985, als ihr Mann Brian Bishop und ihre Freundin Molly Blackburn Opfer eines Anschlags der „Sicherheitskräfte“ wurden – und sie selbst nur knapp überlebte. „Wenige Monate nach dem sogenannten ‚Unfall‘ erhielt ich 1986 den Auftrag meiner Gemeinde, bei der Wahl des neuen Erzbischofs von Kapstadt für Desmond Tutu zu stimmen. Es gelang, aber bis heute bin ich schockiert, wie viele hasserfüllte Reaktionen es damals gab, weil er der erste schwarze Bischof war. Zum ersten Mal auf einer Bühne war ich mit ihm im gleichen Jahr, 1986, als ich endlich nicht mehr an Krücken ging und wir im überfüllten Saal zum Widerstand gegen die Wehrpflicht in Südafrika aufriefen. Wir erhielten tosenden Beifall von vielen jungen Leuten aller Hautfarben. Ab dann gingen viele weiße junge Männer lieber ins Gefängnis, statt auf ihre Brüder und Schwestern in den Townships zu schießen. Es ist ein großes Geschenk, dass ich diesen Mann zu meinen Lebzeiten erleben durfte.“
Bei einem Besuch vor seiner St. George's Kathedrale erinnert sich die bekannte Fernsehjournalistin Ayesha Ismail, wie früher Desmond Tutu ihr und ihren Kolleg*innen Schutz bot in seiner Kirche und sich vor verfolgende Soldaten stellte.
Sonwabiso Ngcowa, Schriftsteller
Der Schriftsteller Sonwabiso Ngcowa, 37, ist sich sicher: „Tata Tutu wird noch lange Einfluss auf unsere junge Generation haben. Was für eine Dynamik bis zuletzt! Sein Ideal sozialer Gerechtigkeit ist auch unseres. Tutu wurde nicht gemocht von autoritären und korrupten Politikern, egal ob aus unserem ANC oder von jemandem wie Robert Mugabe aus Simbabwe. Es gibt noch zu viele kleine Mugabes – gegen sie müssen wir als junge Tutus aufstehen.“
Der 19 Jahre alte Vuyo M. stimmt zu: „Zum Beispiel müssen die viel zu hohen Studiengebühren an den Unis abgeschafft werden.“ Und die 20 Jahre alte Kwezi S. ergänzt: „Mein Vater starb auf dem Weg zum Krankenhaus, weil es bei uns auf dem Land kaum Krankenwagen gibt. Die Ärztin sagte, wir seien zu spät gekommen, als wir ihn auf einer Schubkarre brachten. Südafrika ist kein armes Land. Wir müssen wie Tata Tutu dafür aufstehen, dass der Reichtum endlich anders verteilt wird.“
Täglich läuten die Glocken seiner Kathedrale
Nun leuchtet in Kapstadt der Tafelberg sowie das Rathaus jeden Abend im Violett seiner Bischofsrobe. Täglich läuten mittags die Glocken seiner ehemaligen Kathedrale. In der Innenstadt bleiben dann viele Menschen stehen und falten die Hände.
Am 30 und 31. Dezember wird sein Leichnam in seiner Kathedrale aufgebahrt, die offizielle Trauerfeier am Neujahrstag wird der heutige Erzbischof Thabo Makgoba leiten. Vertreter*innen aller Religionen werden anwesend sein, dazu aufgrund von Corona nur etwa 200 geladene Gäste. Makgoba appellierte: „Bitte folgt unserem Gottesdienst wegen Covid lieber daheim an den Fernsehern – wir alle werden ihn im Herzen haben!“
Im ganzen Land wird Tutu gewürdigt. Selbst der frühere Präsident Thabo Mbeki (79), der als Nachfolger von Nelson Mandela den unter Vorsitz von Erzbischof Tutu erstellten Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission (1996-1998) zunächst ablehnte, von Tutu für seine verfehlte Aidspolitik kritisiert wurde und Tutu daraufhin nicht mehr zur jährlichen Parlamentseröffnung einlud, pries nun seine „wichtige Rolle beim Aufbau eines neuen Südafrika“.
Zu den wenigen Prominenten, die ihn nicht würdigten, gehört Ex-Präsident Jacob Zuma (79), dessen Regierung sich 2011 weigerte, zu Tutus 80. Geburtstag seinen Freund, den Dalai Lama, nach Südafrika einreisen zu lassen. Dies und Zumas Korruption führten dazu, dass Tutu erklärte, die ehemalige Befreiungsbewegung, den African National Congress (ANC), nicht länger wählen zu können.
Die Stiftung des erst am 11. November verstorbenen letzten Apartheid-Präsidenten FW de Klerk veröffentlichte dagegen eine Würdigung Tutus als „moralischer Kompass Südafrikas“, obwohl Tutu auch de Klerk kritisiert hatte, nicht genug zur Aufklärung von rassistischen Verbrechen getan zu haben.
Der heutige Präsident Cyril Ramaphosa hatte sich bereits bei Amtsantritt 2018 bei Erzbischof Tutu entschuldigt für die Attacken seines ANC – und besuchte auch jetzt umgehend Tutus Familie, allen voran Tutus Frau „Mama Leah“, um das Beileid der Regierung zu überbringen.
Viele Menschen verabschieden sich jetzt von Tutu. In einer Schlange zum Eintrag in Kondolenzbücher treffe ich auf eine Gruppe obdachloser queerer Frauen und Männer. Sie sind gekommen, sagt eine junge Frau, weil „Tutu uns geliebt hat“. Ihr Freund, der sich als Transmann vorstellt, ergänzt: „Er hat mal gesagt, dass er zu keinem homophoben Gott beten würde. Dann ginge er lieber in die Hölle. So war er.“
Als ich die Kathedrale verlasse, ruft ein älterer „Weißer“ meinen Namen: Willem P., 76, war früher wie die meisten seiner Generation voller rassistischer Überzeugungen. Er sieht mein erstauntes Gesicht und brummt leise, so dass nur ich es hören kann: „Tutu hat uns alle zu besseren Menschen gemacht. Ich denke heute anders. Nur wegen ihm.“
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