Suche nach einem neuen Selbstverständnis: Europas Gegenwart
Der englische Radiomoderator Johny Pitts ist durch Europa gereist. Er sammelt Geschichten und Erfahrungen, um ein afropäisches Projekt zu formen.
Wenn man den Begriff „afropäisch“ hört, was stellt man sich vor? Straßenfeste in hippen Stadtteilen, in denen „afrikanische“ Prints, senegalesische Spezialitäten und smart gestylte Afros ein buntes Miteinander repräsentieren? Wie sieht die echte Lebensrealität von Menschen in Europa aus, die eine afrikanische Migrationsgeschichte haben und als „fremd“ gelesen werden, auch wenn sie in Europa geboren wurden?
Johny Pitts, englischer Radiomoderator – jung, hip, kosmopolitisch – unternimmt eine Reise durch das schwarze Europa. Seine Suche nach afroeuropäischer Identität führt ihn durch europäische Metropolen, vor allem an ihre Ränder.
Afropäische Communities sucht Pitts bei nordafrikanischen Muslimen und bei Kindern karibischer Einwanderer. Eine Art Wegweiser ist die Hautfarbe, Pitts selbst spricht von „Cappuccino“. „Afrikanisch“ meint Nachkommen von verschleppten Sklaven ebenso wie in jüngster Zeit Geflüchtete. Solch eine Unschärfe ist eher problematisch als produktiv. „Afropäisch“ wird so zu einem Attribut, das alle Klassen, ethnische und religiöse Unterschiede überschreibt.
Aber was eint geflüchtete Somalier und Marokkaner, die bisweilen im Clinch miteinander liegen? Tatsächlich verklammern negative Erfahrungen so unterschiedliche Identitäten: struktureller Rassismus, Formen der Exotisierung, die bis hin zu einer Aneignung ursprünglich afrikanischer Kleidungsstile reichen, auch eine Erotisierung der Körper, bei denen ein schwarzer Liebhaber als Trophäe betrachtet wird.
Es fehlt das Gefühl des Angenommen-Werdens
Obwohl Pitts seine Motivation erklärt, wird nicht ganz deutlich, was er zu finden hofft. Vielleicht sucht Pitts nach einer Gemeinschaft jenseits individueller Herkunftsgeschichte, die dann aber durch was geknüpft wäre? Was fehlt, weil es vielleicht nicht existent ist, ist ein verbindendes Gefühl des Ankommens oder Angenommen-Werdens.
Johny Pitts: „Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa“. Aus d. Engl. v. Helmut Dierlamm. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 461 Seiten, 26 Euro
Ein junger Mann namens Mohammed, den Pitts in Berlin trifft, beschreibt es so: Die Europäer versuchten mehr und mehr zu erwirtschaften. Der Afrikaner (Mohammed verallgemeinert) dagegen sei froh, wenn er das Nötigste habe, und chille gerne bei einem Joint. Entweder passe er sich dem europäischen Streben an und werde unglücklich, weil er seine Identität verleugne, oder er behalte seine Identität und werde von der Gesellschaft ausgegrenzt.
Pitts hält dagegen, dass es die Eingewanderten jeder Couleur seien, die doch am härtesten arbeiteten. Und er fragt sich, allerdings im Stillen, ob Mohammed nicht schlichtweg europäische Klischees über Afrikaner internalisiert habe. Mohammed vergisst auch, dass in vielen afrikanischen Kulturen Frauen besonders hart arbeiten.
Interessant, dass Pitts nie kontrovers diskutiert. Er lässt den Leser an seinem Widerspruch teilhaben, nicht aber den Sprecher, wohl um zu verhindern, dass dieser sich verschließt. Er widerspricht allerdings da, wo sein Gegenüber partout keinen Rassismus erkennen will, wie im Falle von Lucille, die in Schweden geboren wurde. Pitt freut sich zunächst, weil er glaubt, in ihr eine vom „gleichen Stamm“ zu erkennen, Kleidungsstil und Habitus ähneln sich. Lucille aber beklagt die Wehleidigkeit vieler Schwarzer, es existiere „eine Art Besessenheit vom Thema „race“. Lucille aber ist privilegiert. Kann man „Rasse“ isoliert von „Klasse“ denken?
Vergessene Denker
Immer wieder trifft Pitts auf seinen Reisen Intellektuelle und Musiker, ruft vergessene afropäische Denker ins Gedächtnis. In Sankt Petersburg betrachtet er das Puschkin-Denkmal und erinnert den Leser an das afrikanische Erbe des berühmten Schriftstellers mit dem wilden Haar, von dem so mancher vielleicht gar nichts ahnt. Pitts selbst muss seinen Afro, der ihn im Gegensatz zu seiner Hautfarbe eindeutig als Farbigen ausweist, in Russland verstecken. Einmal fühlt er sich hier von Neonazis verfolgt.
Je länger man liest, desto mehr zweifelt man daran, ob es so etwas wie ein afropäisches Projekt geben kann. Sicher, das Attribut ist sinnvoll, weil es die Bindestrich-Identitäten auflöst. Es führt symbolisch zwei kulturelle Identitäten zusammen, macht deutlich, dass „afrikanisch“ und „europäisch“ zusammengedacht werden können. Aber vielleicht ist der Maßstab einer paneuropäischen Erkundungsreise zu groß. Wie können zwei oder drei Gesprächspartner ganze Communities repräsentieren?
Es fehlt eine Art „Mitte“ der afropäischen Gesellschaft
Zudem fällt eine seltsame Geschlechterdisparität auf, wenn es um den Zusammenhang von „Rasse“ und Klasse geht: Pitts spricht mit hochgebildeten Frauen, aber die Putzfrauen, Hausangestellten, die Mütter und Omas bleiben stumm. Er spricht mit jungen Geflüchteten, die Verzweiflung und Frustration in sich tragen, und mit älteren Intellektuellen, aber es fehlt eine Art „Mitte“ der afropäischen Gesellschaft.
Immerhin aber versammelt das Buch interessante Geschichten, sprachlich bunt illustriert – im auffälligen Kontrast zu den Schwarz-Weiß-Fotografien im Buch. Die Fotos übrigens zeigen schwarze Europäer vor allem in Transitsituationen. Im Bus, in der Bahn, an Haltestellen. Bilder vom Ankommen, hoffentlich.
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