Subjektiver Literaturkanon I: tazzig und bewusstseinserweiternd!
Egal ob auf Papier oder als E-Book – kurz vor der Buchmesse sammelte unser Autor 50 klassische Werke, die man im Leben gelesen haben muss.
William Shakespeare Hamlet. Nicht nur „Sein oder nicht sein“ zitieren! Ruhig mal lesen, diesen Klassiker der Klassiker.
Johann Wolfgang von Goethe Die Leiden des jungen Werthers. Liebe als Passion.
Tausendundeine Nacht. Viele tolle Geschichten. Und die großartigste Rahmenhandlungen von allen: eine Frau, die von ihrem Leben erzählt.
Jane Austen Emma. Mein Lieblingsbuch von der Königin des britischen Gesellschaftsromans.
Heinrich von Kleist Erzählungen. Wie das Schicksal so spielt. Mit aller Klarheit und aller Wucht, die die Sprache nur hergibt, aufgeschrieben.
Hans Christian Andersen Märchen. Seelenzuschnürende Traurigkeiten, mit aller Liebe erzählt. Wer bei dem „Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nicht weint, hat kein Herz.
Edgar Allen Poe Erzählungen. Ästhetik des Schreckens, Angstlust des Lesens. Und das größte Abenteuer von allen: der Versuch, den eigenen Abgründen auf die Spur zu kommen.
Charles Dickens Oliver Twist. Schon klar, manches an diesem Roman ist sentimental. Aber was Menschen Menschen antun können und angetan haben, das kann man hier nachlesen.
Georg Büchner Lenz. Und die Dramen auch. Und die Briefe!
Henry David Thoreau Walden. Thoreau, der das Experiment unternahm, zwei Jahre lang in einer Holzhütte zu leben, wird oft als erster Aussteiger missverstanden. Dabei wollte er gerade intensiv leben. Und das hat er, wie dieses Buch beweist, dann auch getan, draußen am See.
Vom 10. bis 14. Oktober 2012 findet die Frankfurter Buchmesse statt. Die taz stellt 100 Bücher vor, die man vor dem Tod gelesen haben sollte.
Theodor Fontane Der Stechlin. Noch ein See. Ein Roman für Erwachsene!
Herman Melville Moby Dick. Nennt mich Ismael!
Gustave Flaubert Emma Bovary. Keine Heldenabenteuer mehr, sondern die komplizierten Bewegungen und die ganze Tragik ganz normaler Lebensläufe. In diesem Roman erfand Flaubert das realistische Erzählen.
Leo Tolstoi Anna Karenina. Beziehungsprobleme, Sinnsuche, Lebensverfehlungen – alles, womit man sich heute als moderner Mensch so herumschlägt, steht hier aufgeschrieben.
Lewis Carroll Alice im Wunderland. Wildes Erzählen at its best. Und großartige Sprachspiele!
Mark Twain Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Einfache Jungs als Helden, ein Ausreißer als Ich-Erzähler: Das ist Amerika!
Oscar Wilde Das Bildnis des Dorian Gray. Das Leben als Kunstwerk – man darf sich nur nicht mit dem eigenen Bildnis verwechseln.
Joseph Conrad Herz der Finsternis. Oder „Lord Jim“ oder „Nostromo“ oder … Der Schriftsteller, der einem beim Lesen sehen machen kann.
Knut Hamsun Hunger. Der Autor als unfreiwilliger Hungerkünstler. Dagegen wirken alle heutigen Beschreibungen von prekären Lebensformen blass.
Italo Svevo Zeno Cosini. Und dabei bin ich längst Nichtraucher!
Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ohne weitere Erklärungen. Das Buch, für das man sich unbedingt ein Sabbatjahr nehmen sollte.
Thomas Mann Buddenbrooks. Eine Fundgrube an Figuren. Man braucht keine eigene Familie mehr, wenn man solche literarischen Verwandten hat. Und herzzerreißend: die Stellen, wo Tony mit Morten auf den Steinen sitzt.
James Joyce Dubliners. Im Grunde müsste hier natürlich „Ulysses“ stehen.
Virginia Woolf Zum Leuchtturm. Was für ein Leben! Erzählen als Therapie. Ich war lange abgeschreckt, weil die Woolf-Lobgesänge so nach Oberseminar klangen: Bewusstseinsstrom usw. Aber beim Lesen ist man dann schnell gefangen vom intellektuellen Reichtum dieser Erzählerin.
Franz Kafka Alles. Von Franz Kafka lohnt es wirklich, alles zu lesen. Und bitte dabei alle kafkaesken Klischees mal außen vor lassen. Kafka war längst nicht nur der Autor der Absurditäten des Lebens. Wie viel Hellsichtigkeit und Selbsterkenntnis möglich ist, das kann man bei ihm sehen.
Vladimir Nabokov Lolita. Leicht unoriginell, bei Nabokov sein bekannteste Werk zu empfehlen. Aber der intellektuelle Erzähler auf Abwegen in der amerikanischen Jugendkultur – das ist einfach hinreißend.
John Steinbeck Straße der Ölsardinen. Eine Art Reigen unter einfachen Menschen an der amerikanischen Westküste. Einmal bin ich extra mit einem Mietwagen nach Monterey, Kalifornien gefahren, wo das Buch spielt. Aber das war natürlich ziemlicher Quatsch. Man findet heute nichts von seiner zwischen Armut und Hafenromantik angesiedelten Atmosphäre wieder. Macht nichts, es gibt ja immer noch das Buch.
Samuel Beckett Das letzte Band. Auch eine Suche nach der verlorenen Zeit, Beckett-typisch aufs Äußerste reduziert.
Astrid Lindgren Pippi Langstrumpf. Zur Erinnerung: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf. In gewisser Weise das passende literarische Gegenstück zum „Huckleberry Finn“.
Jean Genet Tagebuch eines Diebes. Vieles an dem Werk des „Orpheus der Gosse“ funktioniert heute, finde ich, nicht mehr. Aber im „Tagebuch“ steht viel drin über Selbstverwirklichung als radikales Außenseitertum.
ist Literaturredakteur der taz.
Max Frisch Montauk. Das einzige Buch von Frisch, das man wirklich lieben kann. Das dann aber sehr. Schreiben als ehrlicher Versuch, sich selbst zu lesen.
Albert Camus Der Fremde. Eine Warnung vor diesem Roman: Er kann einen bis heute ziemlich erschüttern. Einblicke in die „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“.
Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe. Klug!
Richard Yates: Easter Parade. Gnadenlose Menschenbeschreibungen – und auf jeder Seite hält man den Atem an.
Cheikh Hamidou Kane Der Zwiespalt des Samba Diallo. Ein Tipp des Afrikaredakteurs. War ein guter Tipp.
Michael Ende Jim Knopf. Doch, muss man gelesen haben.
Imre Kertész Roman eines Schicksallosen. Erzählen als zutiefst existentieller Kampf gegen Entmenschlichung.
Christa Wolf Nachdenken über Christa T. Erzählen als Gewissensprüfung.
Thomas Bernhard Wittgensteins Neffe. Im Grunde könnte man irgendein Buch des Übertreibungskünstlers nehmen – sie gleichen einander. Aber wer noch keins gelesen haben sollte, sollte mit diesem anfangen.
Alice Munro Tanz der seligen Geister. Fast schon klassische Kurzgeschichten. Ach was, längst klassische Kurzgeschichten.
John Updike Ehepaare. Der Schriftsteller als Spion im normalen Mittelklasseleben. Der Autor, der zeigt, dass genaue Menschenbeobachtung in Menschenfreundlichkeit münden kann.
Leonard Cohen Lyrics. Große Lyrik!
Thomas Pynchon Die Enden der Parabel. V2-Raketen und Drogenräusche. Das Lesen selbst als echtes Abenteuer.
Amos Oz Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Epische Geschichte rund um die Gründung Israels – und ein großes, ergreifendes Mutterporträt.
J. M. Coetzee Schande. Wie sagte Kafka: Jede Zeile muss gegen einen selbst gerichtet sein. Bei Coetzee ist sie es. Mit der Wucht einer griechischen Tragödie.
Peter Handke Nachmittag eines Schriftstellers. Federleichter Text, in dem Handke Alltagsstunden in einem sanft verklärenden Licht aufscheinen lassen kann.
Richard Ford Unabhängigkeitstag. Die großen Dramen des Lebens, erzählt anhand eines modernen Jedermanns.
Roberto Bolano 2666. Vom fiktiven deutschen Schriftsteller Hans Reiter bis zum aktuellen Krieg um Drogen: Dieser Roman ist ein zeiten- und weltumspannendes Epos. Ergreifend der vierte Teil, in dem Bolano sachlich die Frauenmorde in der Stadt Ciudad Juárez beschreibt.
David Foster Wallace Unendlicher Spaß. Vielleicht reicht es auch, in dieses Mammutbuch hineingeschaut zu haben. Um zu wissen, wie tollkühn Erzählen heute möglich ist.
Christian Kracht Faserland. Literatur nach dem Ende des pathetischen Glaubens an Literatur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen