Stuttgart 21-Proteste: Die Gegner sind zurück
Ein Polizist wird bei einer Demonstration von mehreren Gegnern verletzt. Ein nicht tolerierbarer Gewaltakt - aber ein durchaus erklärbarer Wutausbruch.
Es schien so gut zu laufen für Bahnchef Rüdiger Grube. Der Wechsel vom Charming Boy zum Rambo war vollzogen, das Gesicht passte zur Sprache, die Tat zur Absicht: Stuttgart 21 bauen. Um jeden Preis. Schnell sollte es nun gehen.
Kein Baustopp mehr, es sei denn zu Steuerzahlerkosten, die mal kurz aus der Luft gegriffen waren, und dann noch fix einen Stresstest, dessen Ergebnis er offenbar kennt: alles positiv. So hat er die Landesregierung vor sich hergetrieben, die in einer Falle hockte, die sie sich selbst gebaut hat.
Was soll Winfried Kretschmann sagen, wenn Heiner Geißler am 14. Juli verkündet, dass der Tiefbahnhof alles kann, was er bei seiner Schlichtung gefordert hat? Dass er den Zahlen nicht traut, die Bahn wieder mal getrickst hat, die Projektgegner wieder mal über den Tisch gezogen wurden? Oder erinnert sich noch jemand daran, dass der Stresstest öffentlich von Regierung und Volk diskutiert werden sollte?
Nein, solche Sätze wird Kretschmann nicht über die Lippen bringen. In seiner neuen Rolle als staatstragender Landesvater schon gar nicht. Er war es schließlich, der stets auf den Stresstest gesetzt hat. "Warten wir ab, was er bringt", so lautete seine ständige Rede.
Was soll Winfried Hermann, sein Verkehrsminister, sagen? Wieder in die Rolle des ewigen Widerständlers schlüpfen und erklären, dass Grube ihn am Nasenring durch die Manege führen wollte? Nichts gehalten hat, was er versprochen hat? Transparenz, Augenhöhe. Er könnte dann auch noch politisch argumentieren und sagen, dass er ein abgekartetes Spiel vermutet, zwischen Bahnchef und Kanzlerin, die einen weiteren Ausstieg, nach dem Atom, verhindern und die grün-rote Landesregierung ins Wanken bringen will.
Kollektiver Zorn
Und er könnte spekulieren, dass die Bahn ihr Projekt jetzt mit aller Macht durchdrücken will - weil sie den Protest für erledigt hält. Hermann könnte das alles erzählen und hätte damit nur seinen Ruf gefestigt, ein holzköpfiger Verweigerer zu sein, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat und bestenfalls als tragischer Held enden kann.
Seit Montag, den 20. Juni 2011, liegen die Dinge anders. Was viele nicht mehr geglaubt haben: Die Bewegung lebt, die Gegner sind zurück. Bemerkenswert ist weniger die Zahl derer, die sich in den Pfingstferien (die Lehrer fehlen noch) am Hauptbahnhof versammelt haben. Aufschlussreicher sind Form und Inhalt des Protests, der weit von der Gewalt entfernt war, wie sie nun beschrieben wird.
Aber wer miterlebt hat, wie Rentner aus den Reifen der Lastwagen am Südflügel die Luft ablassen, wie weißhaarige Frauen auf T-Trägern Transparente hochhalten, wie Jugendliche auf das Dach des Grundwassermanagements steigen, der weiß, was die Stunde geschlagen hat. Im kollektiven Zorn haben Teile der Bürgergesellschaft eine Grenze überschritten, die sie bisher gewahrt hat. Die umgekippten Zäune am Südflügel sind dafür das Symbol.
Das "verdummte" Volk wehrt sich
Das muss man nicht gutheißen, insbesondere im Hinblick auf den verletzten Polizisten. Nicht mehr zu rechtfertigen ist es, wenn es stimmt, was die Polizei behauptet, nämlich dass der Beamte schwer verletzt ist. Aber man kann es erklären. Was sich hier Bahn gebrochen hat, schien vergessen, verdrängt oder verschüttet. Es schien weg nach der Schlichtung, weg nach dem Start der neuen Regierung, in die große Hoffnungen gesetzt wurden, auch zerrieben zwischen den Fronten von Aktionsbündnis und Parkschützern.
Aber es schien nur so. Die Wut über die Arroganz der Macht, sei sie personifiziert durch Grube, Ramsauer, Merkel, einst Mappus oder Schuster, ist geblieben, hat sich tief in das Gedächtnis eingegraben. Rüdiger Grube, der frühere Daimler-Manager, hat diese Wut wieder hervorgeholt - mit seinem Vorwurf an die Grünen, sie betrieben "Volksverdummung". Jetzt wehrt sich das "verdummte" Volk.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Habeck fordert Milliardärssteuer
Wer glaubt noch an Robert Hood?
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!
Vorteile von physischen Spielen
Für mehr Plastik unterm Weihnachtsbaum
Gründe für das Aus der SPD-Kanzler
Warum Scholz scheiterte