Sturm auf die Stasi-Zentrale: "Das war wie eine Burg"
Am 15. Januar 1990 wurde die Stasi-Zentrale in Lichtenberg gestürmt. Dabei war Andreas Schreier, der als Oppositioneller am runden Tisch für die Auflösung der Staatssicherheit eintrat - und enttäuscht wurde.
taz: Herr Schreier, der 15. Januar 1990 ist als Tag der Erstürmung der Stasi-Zentrale in Berlin in die Geschichte eingegangen. Welche Bedeutung hat dieses Datum für Sie persönlich?
Andreas Schreier: Für mich hatte der 15. Januar eine lange Vorgeschichte. Wenn man sich, so wie ich, seit Beginn der Achtzigerjahre in der oppositionellen Szene aufhielt, war es unvermeidlich, den Leuten aus dem MfS über den Weg zu laufen. Das galt auch für den Herbst 1989 in Berlin. Bei den Auseinandersetzungen an der Schönhauser Allee mit der Volkspolizei während des Gorbatschow-Besuchs waren auch zivile Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit dabei. Die haben uns ordentlich zugesetzt.
Andreas Schreier, 45, ist gelernter Medizintechniker, freiberuflicher Journalist und Webdesigner. Zu DDR-Zeiten war er in der Opposition aktiv, zunächst in Wittenberg, dann in Berlin. Als Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Sicherheit am Zentralen Runden Tisch bekam er kraft eines Ausweises (s. Foto) Zugang zu zahlreichen Objekten der Staatssicherheit.
Am 15. Januar 1990 tagte seit dem Morgen der Zentrale Runde Tisch. Ab Mittag waren Mitglieder des Bürgerkomitees mit der Volkspolizei auf dem Gelände der Stasi-Zentrale, um zu verhindern, dass Akten vernichtet werden. Um der Forderung nach einer Auflösung der Stasi Nachdruck zu verleihen, hatte das Neue Forum für 17 Uhr zu einer Kundgebung vor dem Haupteingang der Stasi-Zentrale in der Ruschestraße aufgerufen.
Nach der Besetzung lenkte die Regierung Modrow ein und löste die Stasi auf. Eine zweite Besetzung und ein Hungerstreik im September 1990 sorgten dafür, dass die Akten nicht im Bundesarchiv in Koblenz verschwanden.
Am Samstag feiert die Birthler-Behörde von 10 bis 20 Uhr mit einem Bürgerfest in der Ruschestraße 103. Mit dabei ist auch Jan Josef Liefers mit Band.
Nach dem Fall der Mauer hat es nur wenige Wochen gedauert, bis in der DDR-Provinz die Stasi-Dienststellen besetzt wurden. Warum hat es in Berlin so lange gebraucht?
Berlin war die Zentrale. Das andere waren die Kreisdienststellen in den Bezirksverwaltungen. Die waren wesentlich kleiner als das, was in Berlin stand. Das war eine Burg. Über 30.000 Mitarbeiter waren da beschäftigt. Da hat sich zuerst niemand so richtig rangewagt.
Zu dem Zeitpunkt gab es auch schon den Zentralen Runden Tisch. Sie selbst waren da in der Arbeitsgruppe Sicherheit aktiv.
Am runden Tisch saß die Opposition der Regierung Modrow gegenüber. Das war, neben der Straße, ein Ort, wo wir versucht haben, unsere Forderungen durchzubekommen. Zu denen gehörte auch die Auflösung der Staatssicherheit.
Modrow aber hat lediglich den Namen geändert. Aus dem MfS wurde das AfNS, das Amt für nationale Sicherheit.
Und später der Verfassungsschutz und Nachrichtendienst der DDR. Das war bei weitem nicht das, was wir uns vorstellten. Unsere Parole lautete seit dem Herbst 1989: Stasi in die Produktion. Außerdem waren die Leute wütend darüber, dass die Stasi versuchte, Akten zu vernichten. Die weit verbreitete Meinung war: Erst bespitzeln sie uns, dann vernichten sie die Spuren, und wir erfahren nichts davon.
Am 15. Januar tagte in Berlin der Zentrale Runde Tisch zum Thema Staatssicherheit. Gleichzeitig hat das Neue Forum für den Nachmittag zu einer Demo vor der Stasi-Zentrale an der Normannenstraße aufgerufen. Dabei sollten auch Ziegelsteine und Mörtel mitgebracht werden, um die Stasi-Zentrale symbolisch zuzumauern. Wie war die Stimmung vor Ort?
Da waren Tausende von Leuten. Nur eines hat gefehlt: Redebeiträge der Veranstalter. Die Leute haben mit ihren Transparenten in der Kälte gewartet und waren wütend. Da hätte was passieren müssen. Das fehlte, und das hat den Druck der Leute auf das Tor vergrößert. Dann haben die Leute selbst was gemacht. Einige haben beispielsweise versucht, die Drähte der Überwachungskameras durchzuschneiden.
Schließlich ging das Tor von innen auf. Bis heute weiß man nicht, wer es geöffnet hat.
Das ist der große Mythos des 15. Januar 1990. Ein Mitglied des Leipziger Bürgerkomitees sagte später, er selbst sei rübergestiegen, und habe das Tor von innen geöffnet. Andere wollen gesehen haben, dass Volkspolizisten das Tor geöffnet haben. Doch nicht nur die Öffnung des Tors ist ungeklärt, auch im Inneren des Komplexes gab es viele Merkwürdigkeiten. Zum Beispiel ging die Menge wie von Geisterhand gelenkt zum Versorgungstrakt. Die Archive waren aber woanders.
Gibt es dafür eine Erklärung?
Es spricht viel dafür, dass das ein Ablenkungsmanöver war. Schließlich wussten die Leute, die in der Stasi-Zentrale gearbeitet haben, seit Langem, dass da was passieren würde. Später hat mir einer gesagt: "Wir haben euch erwartet." Neben der Stasi waren die Einzigen, die noch einen Plan hatten, ein paar westlichen Geheimdienstler unter den Demonstranten. Die brachen zielgerichtet in Büros der Hauptabteilung Spionageabwehr ein und suchten nach Dokumenten.
Was haben Sie gemacht, nachdem das Tor offen war?
Ich bin mit der Menge reingegangen. Es gab auch Leute, die nach dem Archiv gefragt haben. Manche sind bis zur HVA durchgedrungen, also der Auslandsaufklärung. Die haben dann Guten Tag gesagt, worauf die HVA-Leute meinten, sie seien fürs Ausland zuständig, und die Besetzer meinten, dann seien sie da wohl an der falschen Adresse. Das war ein weit verbreitetes Denken, schließlich war die DDR Teil des Warschauer Paktes, und auf der anderen Seite stand die Nato. Nicht die HVA war unser Gegner, sondern die, die die Opposition verfolgt haben. Erst in der Nacht haben wir dann rausgekriegt, wo das Archiv ist. Zu dem Zeitpunkt hat das Neue Forum schon längst versucht, die Menge zu beruhigen. Es gab vor allem im Versorgungstrakt viele Zerstörungen. Die Angst, dass die Revolution in eine gewalttätige Geschichte umkippt, war bei einigen sehr groß.
Das Neue Forum sprach am nächsten Tag angesichts der Zerstörungen von einer Katerstimmung. Andererseits hat Modrow wenig später den Forderungen nach einer Auflösung des MfS nachgegeben. War der 15. Januar im Rückblick ein Erfolg?
Ja, das war ein Erfolg. Der 15. Januar hat alles beschleunigt. Die Leute haben nicht mehr gewartet, sondern selbst gehandelt. Auch in den Wochen danach. Die Bürgerkomitees haben zusammen mit der Volkspolizei kontrolliert, wer rein- und rausgeht. Wir haben die geforderten Dienstausweise und Dienstwagen bekommen. Die brauchten wir, um im ganzen Land den Auflösungsprozess dieses Geheimdienstes zu kontrollieren.
Gilt das mit dem Erfolg auch für das Stasiunterlagengesetz und die Gauck-Behörde, die nach der Wiedervereinigung gegründet wurde?
Unsere Forderung war: Wir verhindern die Vernichtung der Akten, und wir arbeiten sie auf. Nicht der Westen.
Spätestens seit den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 war klar, dass es eine Vereinigung beider deutscher Staaten gibt.
Und die Regierung de Maizière hat unsere Arbeit nicht gerade erleichtert. Im Einigungsvertrag war vorgesehen, dass die Stasiakten ins Bundesarchiv nach Koblenz gehen. Da wären sie erst mal 30 Jahre lang unter Verschluss gewesen. Da waren sich Westpolitiker wie Wolfgang Schäuble und Ostpolitiker wie Lothar de Maizière und Peter Michael Diestel ziemlich einig. Wir wollten das Gegenteil. Und wir wollten auch nicht, dass die Westgeheimdienste an die Akten kommen. Wir wollten nicht nur keine Stasi, wir wollten gar keine Geheimdienste mehr.
Der Einigungsvertrag hätte also das Gegenteil von dem bedeutet, wofür sie sich am 15. Januar 1990 eingesetzt haben.
Deshalb mussten wir im September 1990, kurz vor der deutschen Vereinigung, die Stasi-Zentrale noch mal besetzen. Es gab dann auch einen Hungerstreik gegen die Pläne, die Akten wegzuschließen. Damit konnten wir erzwingen, dass der Einigungsvertrag in einem Anhang geändert wurde.
Das Ergebnis waren das Stasiunterlagengesetz und die Gauck-Behörde. Waren Sie damit am Ziel?
Ach was. Im Gegenteil. Kurz nach der Deutschen Einheit wurden wir alle entlassen. Obwohl Gauck uns Stasiauflösern persönlich zugesichert hatte, dass wir die Ersten seien, die eingestellt würden, wurden unsere Bewerbungen abgelehnt. Heute bin ich darüber sehr froh, denn es wurde bald klar, wohin die Reise geht.
Wohin?
Gaucks bester Mann, Hansjörg Geiger, wechselte beispielsweise nach seinem Job in der Behörde direkt an die Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und kurz darauf wurde er Chef des Bundesnachrichtendienstes. Spricht das nicht Bände? Außerdem hat die Gauck-Behörde bald gezeigt, wie man mit den Akten offensichtlich Politik machen kann - zum Beispiel gegen die PDS, aber auch gegen heute noch kritische DDR-Oppositionelle, deren Akten dem Staats- oder Verfassungsschutz übergeben wurden.
Ein Ziel haben sie aber erreicht: Die Akten blieben für jeden zugänglich.
Da bin ich mir nicht sicher: Einerseits besteht eine historisch wohl einmalige Chance mithilfe der Akten, die Struktur und Arbeitsweise eines Geheimdienstes offenzulegen. Hätte ich aber gewusst, dass die Akten von der "Stasi 2.0" weiter genutzt werden, wäre ein großes Freudenfeuer damals wohl die bessere Wahl gewesen.
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