piwik no script img

Studie zur deutschen KolonialgeschichteAn der fernsten Grenze

„Skandal in Togo“ lautet der Titel von Rebekka Habermas’ Untersuchung zur deutschen Kolonialgeschichte. Eine Fallstudie.

Postkarte aus „Deutsch-Südwestafrika“: Major Leutwein war dort von 1895 bis 1905 Gouverneur Foto: Imago/Arkivi

Nein, postkoloniales Denken und Argumentieren ist nicht nur eine intellektuelle Mode, sondern der einzige Zugang zur Welt- und Nationalgeschichte, der dem Zeitalter der Globalisierung angemessen ist. Im Falle Deutschlands scheint das minder zwingend, wird doch die deutsche Geschichte von der NS-Zeit, dem Holocaust sowie dem Zweiten Weltkrieg geprägt, gleichwohl: Auch Deutschland hat eine weitreichende koloniale Vergangenheit, wenngleich es seine Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg verlor.

Dr. Claus Schilling war ein deutscher Tropenmediziner, ein Malariaforscher, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem skandalösen Prozess in Deutsch-Westafrika, also in der Kolonie Togo, Gutachten zum Körperbau der „Negerin“ verfasste, um Jahre später ob seiner Menschenversuche mit Malariaerregern in Dachau 1945 zum Tode verurteilt und 1946 gehängt zu werden. Führt also, wie der Historiker Jürgen Zimmer vermutete, ein Weg von „Windhuk nach Auschwitz“?

Vielleicht – indes: wie verschlungen dieser Weg, wenn überhaupt, tatsächlich war, darüber gibt jetzt eine theoretisch luzide, genaue Fallstudie der Göttinger Historikerin Rebekka Habermas, die durch Studien zur Geschlechtergeschichte hervorgetreten ist, Auskunft. Auch in ihrem neuen Buch bildet ein Kapitel gewaltsamer Geschlechtergeschichte den Ausgangspunkt.

Im Dezember 1906 debattierte das Parlament des deutschen Kaiserreichs einen Skandal, der sich in der deutschen Kolonie Togo zugetragen hatte: Ein Kolonialbeamter soll mit minderjährigen schwarzen Mädchen zusammengelebt und sie regelmäßig missbraucht haben und schließlich einen Fürsprecher der Mädchen, einen Stammesältesten, so hart ob seines Aufbegehrens bestraft haben, dass dieser kurz darauf starb. Ruchbar wurde dieser gar nicht so seltene, aber typische Fall durch ebenfalls in Togo tätige katholische Missionare, Angehörige der Steyler Mission, die die Vorfälle der Berliner Kolonialabteilung gemeldet hatten; eine Meldung, die freilich ohne Folgen blieb.

Modern und erfolgreich

Im deutschen Reichstag waren es vor allem die Partei des katholischen Zentrums in Gestalt der Abgeordneten Matthias Erzberger sowie des Sozialdemokraten August Bebel, die sich immer wieder kritisch und anklagend zu den rassistischen und gewalttätigen Auswüchsen der deutschen Kolonialpolitik äußerten, ohne indes grundsätzlich gegen die Kolonialpolitik zu sein. Denn: Kolonialismus galt allgemein als Ausdruck gesellschaftlicher Modernität sowie politischen und ökonomischen Erfolgs.

Das Buch

Rebekka Habermas: „Skandal in Togo“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 387 Seiten, 25 Euro

Rebekka Habermas hat sich in ihrer Untersuchung methodisch und methodologisch für eine Fallstudie, eine „Microstoria“ entschieden, ein Vorgehen, das am Ende mehr Aufschlüsse über die tatsächlichen, in sich widersprüchlichen Züge dieses Herrschaftsmodells liefert, als es jede großflächige Gesamtdarstellung vermöchte.

Deutscher Kolonialismus: Das war ein In-, Mit- und Gegeneinander eines rassistischen Sexualregimes weniger deutscher weißer Männer über schwarze Frauen, einer bitteren Konkurrenz zwischen gebildeten, humanitär gesinnten Missionaren oft kleinbürgerlicher Herkunft hier und karrieristisch gesinnten Beamten dort; das war die Existenz eines rassistischen „Doppelstaats“, in dem für die Weißen das deutsche Recht, für die Schwarzen hingegen ein Bündel von nicht anfechtbaren, oftmals willkürlich erlassenen Verordnungen und Maßnahmen galt.

All das wurde von einer paternalistischen Erziehungsideologie überwölbt, die die „Neger“ an geregelte Arbeit sowie an die Monogamie heranführen wollte. Habermas zitiert ein Gedicht, das sich in der ersten, 1874 erschienenen Ausgabe der Steyeler Missionszeitschrift fand: „Der Kaffer irrt mit sehnsuchtsvollem Blicke / bis zu der Meere fernsten Grenze hin / Ob ihm der Norden keinen Retter schicke / Der liebend mild’re seinen harten Sinn.“

Dämonisierte „Polygamie“

Im Einklang mit neueren Studien zur politischen Philosophie Afrikas kann Habermas richtigstellen, dass die von den wohlmeinenden Missionaren dämonisierte „Polygamie“ keineswegs ein Fall von Sittenlosigkeit und Vernachlässigung war, sondern oft ein Garant stabiler Lebensverhältnisse zumal für Frauen. Nicht zuletzt aber war das deutsche Kolonialregime von Plänen wirtschaftlicher „Entwicklung“ geprägt, d. h. von Kapitalinteressen, die oft in einem ökonomischen Desaster endeten. So etwa Pläne, Togo zu einem vor allem Baumwolle produzierenden Land zu machen.

taz.am wochenende 1./2. Oktober

Sie geben sich hip, kritisch, unangepasst: Die Identitären sind die Popstars unter den neuen Rechten. Wie gefährlich die Bewegung ist, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. Oktober. Außerdem: Am Sonntag stimmt Kolumbien über das Friedensabkommen zwischen Regierung und Farc-Guerilla ab. Endet damit der Krieg? Und: Die libanesische Künstlerin Zeina Abirached über ihre neue Graphic Novel „Piano Oriental“. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Bei alledem zeigt ein genauerer Blick, dass die konkurrierenden Gruppen der Weißen von durchaus unterschiedlichen Haltungen zur ansässigen Bevölkerung geprägt waren: Während die Beamten die „Neger“ vor allem als Kollektiv ansahen, verstanden sich die Missionare als wohlwollende Fürsprecher der Einheimischen und waren weniger an deren kollektiven Zügen denn an ihren individuellen Lebensläufen interessiert – verstanden sie sich doch als „Verteidiger und Sprachrohr der einheimischen Bevölkerung“.

Nicht zuletzt dokumentiert die Fallstudie jedoch auch den Umstand, dass Entkolonialisierung und Kolonialismuskritik keineswegs erst nach dem Zweiten Weltkrieg begannen. Vielmehr wird deutlich, dass es bereits im Zuge der deutsch-britischen Konkurrenz eine von britischen Kolonien ausgehende, von Schwarzen betriebene Publizistik gab, dass schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts afrobrasilianische „Eliten“ eine Art selbstbewussten schwarzen Bürgertums formten und einheimische Autoritäten, „Chiefs“, sich schon früh in Petitionen gegen die deutsche Willkürherrschaft stellten. Der antikoloniale Kampf begann, das weist Habermas nach, mit der Herstellung von Öffentlichkeit durch die Unterworfenen.

Insofern kann gelten: Es führte kein gerader Weg von Togo und Deutsch-Südwest zu den deutschen Vernichtungslagern im europäischen Osten, den Hitler anstelle der verlorenen Länder Afrikas zum Kolonialgebiet bestimmt hatte. Gleichwohl: In den deutschen Kolonien wurden all jene Strategien erprobt, die 35 Jahre später Europa in Angst und Tod versetzen sollten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Winhoek ist nicht in Togo. Und minderjährige Kinder und junge Erwachsene werden auch heute dort von Expats missbraucht. Die deutsche Kolonialpolitik ist schon hinsichtlich ihrer wenigen Träger und ihrer negativen Finanzbilanz nicht geeignet der Legendenbildung über deutsche Bestialität zu dienen. Wenn überhaupt dann ist die engste Linie der Fall Göring. Ja, es gab schon im 19. Jahrhundert einen breiten Antikolonialdiskurs, etwa der deutsche Philhellenismus und die breite Begeisterung für die polnische Sache, und später den irischen Befreiungskampf. Kolonialpolitik war schon vor 1900 Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen im Reichstag.