piwik no script img

Studentenunruhen in IndienDie Bastion der linken Studenten

Die religiösen Spannungen und hindunationalistischen Tendenzen im Land nehmen zu. Sie haben nun die Universitäten erreicht.

Protest gegen die Verhaftung eines Dozenten der Jawahrlahal-Nehru-Universität: Momentan finden täglich Teach-Ins, Demos und Kundgebungen statt. Foto: dpa

Delhi taz | General Gagandeep Bakshi führte Kommando in Indiens wichtigstem Krieg. Jahrzehntelang jagte er Aufständische im Kaschmir, schrieb 16 Bücher über psychologische Kriegführung und bekam die höchsten Orden des Landes. Jetzt ist er pensioniert, doch er klingt, als kämpfe er die Schlacht seines Lebens erst heute: den Feldzug gegen den „intellektuellen Terrorismus“ an Indiens Universitäten.

An diesem dämmrigen, warmen Abend ist er in das Hauptquartier des Feindes gekommen. Er sitzt auf einem klapprigen Stuhl vor dem Verwaltungsgebäude der Jawaharlal-Nehru-Universität (JNU) in Delhi, dem Zentrum der Linken in Indien, auf dem Kopf seine Generalsmütze, vor ihm Anhänger der nationalistischen Studentenverbindung ABVP, die ihm lauschen wie Jünger einem Fernsehprediger.

„Terrorismus fängt nicht mit Waffen an, sondern mit vergifteten Gedanken“, ruft Bakshi. „Indien ist unser Körper. Wenn man Kaschmir abschneidet, blutet er.“ Die jungen Männer neben ihm reißen die Arme hoch. „Lang lebe die indische Armee“ rufen sie, noch mehr Fäuste gehen in die Luft, „lang lebe, lang lebe“, kommt es zurück, als hockten nicht Studenten auf dem Boden, sondern eines von Bakshis einstigen Bataillonen.

Am Vortag hatte der General in Indiens wichtigste Talkshow, The Newshour, einen Wutanfall. Es ging darum, dass alle nationalen Universitäten ab sofort eine 135 Kilo schwere indische Fahne 60 Meter hoch hissen müssen, auf dass sie „stolz“ über dem Campus weht – so hat es die Regierung angeordnet. Eine Professorin war zu der Talkshow geladen, die das für keine gute Idee hielt.

Bakshi hatte sie minutenlang angebrüllt, sein Schnurrbart blähte sich auf, der so monströs ist, als wolle er damit die Feinde Indiens aus sämtlichen Tälern des Himalaja kehren, und am Ende hatte er allen Ernstes angefangen zu weinen ob so wenig Achtung vor der indischen Fahne. Als „nationale Tragödie“ bezeichnete Bildungsministerin Smriti Irani danach die Tränen in den Augen des Kriegshelden.

Tod eines Kaschmirers

Drunter geht es nicht in diesen Tagen, in denen fast alle in Indien tun, als seien ein paar linke Studenten der größte Feind der Nation seit Abzug der Briten. Begonnen hat alles am 9. Februar, dem Todestag des Kaschmirers Afzal Guru. Der war 2001 in das Parlamentsgebäude in Delhi eingedrungen. Mit acht anderen Männern schoss er um sich, neun Sicherheitsleute starben. Indien machte Pakistan für den Anschlag mitverantwortlich, die Lage im Kaschmir eskalierte. Guru wurde 2013 gehängt. Er habe keinen fairen Prozess bekommen, sagen viele Linke und Kaschmirer.

Wie ist es möglich, dass sich Indien so lange mit dieser Posse beschäftigt?

Wie schon in den Vorjahren erinnerte eine maoistische Studentengruppe auch dieses Jahr an Gurus „Ermordung durch die Justiz“. Auf dem Badmintonfeld des JNU-Campus erschienen dazu ein paar Dutzend Menschen. „Der Krieg wird weitergehen bis zu Indiens Freiheit, der Krieg wird weitergehen bis zu Indiens Zerstörung“, sollen sie gerufen haben. Viele Linke fordern seit Langem, dass Indien den Kaschmirern endlich ein seit 60 Jahren ausstehendes Referendum erlaubt und die Menschenrechtsverletzungen der Armee stoppt.

Doch die Situation geriet außer Kontrolle: Die hindunationalistische ABVP, studentischer Ableger der paramilitärischen „Nationalen Freiwilligenorganisation“ RSS, skandalisierte die Gedenkfeier, Videos tauchten im Netz auf. Am nächsten Tag war der Campus voller Kamerateams, die Hauptnachrichtensendungen berichteten. Die JNU sei ein Hort „antinationaler“, „antiindischer“ Umtriebe, voller Sympathisanten für Pakistan und Terroristen.

Der kommunistische Studentenführer Kanhaiya Kumar wurde verhaftet und der „Aufwiegelung“ angeklagt. Darauf steht „lebenslänglich“. Vier weitere Studenten wurden zur Fahndung ausgeschrieben, zwei stellten sich. Kumar streitet ab, „irgendetwas Aufwiegelndes“ gesagt zu haben. Amnesty International nennt die Anklage gegen ihn „beispiellos“. Intellektuelle wie Noam Chomsky und Judith Butler schrieben Solidaritätsadressen.

8.000 Studenten, fast ohne Smog

Die JNU gilt als die beste Universität Indiens. Der Staat kommt für alles, inklusive Wohnheimplatz und Vollverpflegung, auf, viele Plätze sind für Kastenlose reserviert. Die braunen Backsteingebäude sind in die Jahre gekommen, doch die nur 8.000 Studenten leben in einer fünf Quadratkilometer großen bewaldeten Hügellandschaft, mit Pfauen, Hirschen, Füchsen und Papageien, auf halbem Weg zwischen Flughafen und Stadtzentrum. So ruhig ist es sonst nirgends in der smoggeplagten, chronisch verstopften Millionenstadt.

Doch mit der Ruhe war es nach dem 9. Februar vorbei. Polizei zieht vor dem Campus auf, führt Personenkontrollen durch, gleichzeitig baut sie Gitter auf, um Gegendemonstranten abzuhalten. Diese kommen immer vormittags, es sind Hunderte, fast ausschließlich Männer, sie tragen „Shut down JNU“- und „Nieder mit dem Terrorismus“-Schilder. Wachen ziehen die Tore zu, von drinnen schauen die Studenten die Demonstranten an und filmen sie mit ihren Smartphones. „Die sind alle bezahlt“, raunt einer, „sonst müssten die um diese Zeit doch arbeiten.“

Am 18. Februar ruft das Studentenparlament zu einer Demo für die Freilassung Kumars im Regierungsviertel auf. Der Kanzler der Uni lässt Plakate aushängen, der Marsch sei „nicht sicher“. Trotzdem versammeln sich Tausende am Mittag neben einer Art Freiluftmensa, der Aufbruch zieht sich. Es gibt nicht genug Busse. Viele haben Angst, zu Fuß zur U-Bahn zu laufen. Irgendwann trauen sie sich doch, niemand hält sie auf. In der Innenstadt haben sich über 10.000 Menschen versammelt.

Viele der JNU-Studenten haben sich die indische Fahne ins Gesicht geschminkt, obwohl sie zum linken Lager gehören. Einige tragen Blumen in den Händen. „Das ist jetzt sehr gandhimäßig, was?“, sagt eine Studentin, und die Umstehenden lachen. Die Blumen in der Hand, gehen sie auf die Kameraleute zu. „Hier, mit den besten Genesungswünschen.“ Die Reporter schauen sie verständnislos an. „Wer so viel Unsinn berichtet wie ihr, muss doch krank im Kopf sein.“

Hetzkampagne der Medien

Tatsächlich hatten die Medien eine regelrechte Kampagne gegen die Uni gestartet. Der BJP-Politiker Gyandev Ahuja behauptete, auf dem Campus fänden sich „3.000 Kondome, 2.000 Schnapsflaschen, 10.000 Zigarettenstummel und 500 gebrauchte Verhütungsmittelinjektionen“ – täglich. Noch am letzten Mittwoch debattierte das Parlament stundenlang über die „ultralinken“ Studenten.

Wie ist es möglich, dass eine Großmacht sich wochenlang mit einer derartigen Posse beschäftigt? Ein Land, in dem jeder zweite Hungernde der Welt lebt, das wohl noch dieses Jahrzehnt zur bevölkerungsreichsten Nation der Erde wird?

Seit der Machtübernahme der hindunationalistischen BJP-Partei unter Premierminister Narendra Modi haben sich die religiösen Spannungen verschärft. ABVP und RSS kämpfen für einen rein hinduistischen Staat. Die RSS gilt als ideologische Speerspitze der Regierungspartei und steht für eine Stärkung der religiösen Ordnung, unter der Dalits, die Kastenlosen, und religiöse Minderheiten leiden.

Proteste gegen das Kastensystem

Dagegen regt sich vor allem an den Universitäten Widerstand. Dort ist das BJP-Projekt als „Hindufaschismus“ oder „Saffronisation“ verschrien – Safran ist die Farbe des Hinduismus und der BJP. Verschärft hatte sich der Ton, als sich im Januar in Hyderabad der Dalit und Doktorand Rohit Vermula tötete. Er war angeblich wegen eines Disziplinarvergehens vorübergehend vom Universitätsbetrieb ausgeschlossen worden. Es gab wütende Studentenproteste gegen die BJP und das Kastensystem. Eine Woche später wurde Jagadeesh Kumar als Kanzler der JNU eingesetzt – ein Ingenieur, dem Verbindungen zur RSS nachgesagt werden.

Einer der wenigen, die trotz ihrer Kastenlosigkeit einen Lehrstuhl in Indien erlangen konnten, ist der JNU-Professor Vivek Kumar. Letzte Woche sollte er im nordindischen Gwalior einen Vortrag über den Verfassungsstifter Bhimrao Ramji Ambedkar halten – den wichtigsten Kritiker des Kastensystems. Ein Mob der BJP-Jugendorganisation BJYM kam mit Stöcken in den Veranstaltungsraum und verprügelte die Zuhörer des angeblich „antinationalen“ JNU-Wissenschaftlers. Es fielen Schüsse.

Die JNU, Lehrende wie Studierende, ist seither gespalten in das ABVP-Lager und das dominierende Lager der Verteidiger des verhafteten Kumar. „Wir sind Zeuge einer diktatorischen Haltung“, sagt die Soziologieprofessorin Sujatha Venkatesh. Die Regierung wolle „von den unbequemen Fragen ablenken“, die die kastenkritischen Studenten stellen.

„Wir lehren Studenten, der Nation zu dienen, und nicht, sie zu bekämpfen“, hält Amita Singh, die Vorsitzende des Zentrums für Rechtswissenschaften und Governance, dagegen. „Die Täter sollten bestraft werden.“

„Wir sind linke Nationalisten“

An der Universität wechseln sich seither Streiks, Kundgebungen und Demos nahtlos ab. Abends um 17 Uhr veranstalten linke Studenten und Lehrende vor dem Hauptgebäude eine Art Teach-in zum Thema Nationalismus. Hunderte sitzen still auf und vor den Treppen, die Redner sind kaum zu verstehen, die Soundanlage ist zu klein, die allgegenwärtigen Streifenhörnchen huschen herum, an Wäscheleinen baumeln Plakate, die Auskunft darüber geben, was unter der BJP alles falsch läuft in Indien.

Der Politologe Mahesh, der angesichts des politisch aufgeheizten Klimas seinen wirklichen Namen nicht sagen will, ist einer der Organisatoren. Den Vorwurf des „Antinationalismus“ weist er von sich. „Wir sind als Linke natürlich Nationalisten“, sagt er. Der Begriff sei in einem Land mit dieser Kolonialgeschichte progressiv besetzt. „Aber wir verstehen etwas anderes darunter als die Rechten“, sagt er. „Wir wollen eine Nation der Vielfalt, der verschiedenen Religionen und Ethnien“, sagt er. „Also das Gegenteil von dem, was die BJP will.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!