Streitgespräch zwischen Attac und Ver.di: "Gutes Wachstum ist eine Illusion"
Sind Wohlstand und Umweltschutz ohne Wachstum zu haben? Müssen wir das Ziel eines steten Wachstums aufgeben? Oder brauchen wir ein anderes Wachstum? Ein Streitgespräch.
taz: Herr Schmelzer, um dramatische Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, müsste die Weltwirtschaft jährlich um 1,8 Prozent wachsen, hat der Schweizer Ökonom Hans Christoph Binswanger ausgerechnet. Danach hätte sich Mitte des Jahrhunderts das Output eben mal verdoppelt, und in 200 Jahren läge es beim 35fachen von heute. Ist das überhaupt vorstellbar?
Matthias Schmelzer: Der ehemalige Umweltberater der britischen Regierung, Tim Jackson, macht in seinem Buch "Wohlstand ohne Wachstum" eine interessante Gegenrechnung auf: Er geht zunächst von einem weltweiten Wachstum von 2 Prozent bis zum Jahr 2050 aus. Um die Klimaziele einzuhalten und zugleich die globalen Einkommen an das EU-Durchschnittsniveau anzugleichen, bräuchten wir dann eine Ökonomie, die für jeden produzierten Dollar nur ein Hundertdreißigstel der heutigen Kohlendioxidmenge ausstößt.
Ist das machbar?
Nach allem, was wir wissen, ist es nicht vorstellbar, dass das innerhalb der nächsten vier Jahrzehnte funktioniert. Ich halte es für einen übersteigerten und irrationalen Glauben an technische Innovationen, die ökologischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, durch technische Lösungen in den Griff bekommen zu wollen.
Herr Reuter, in Ihren Thesen für die Bundestags-Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" bezeichneten Sie Wachstum als Mittel, den Wohlstand zu steigern und zugleich den sozialen, arbeitsmarktpolitischen und ökologischen Anforderungen gerecht zu werden. Was für ein Wachstum soll das sein?
NORBERT REUTER, 50, ist Ökonom und arbeitet im Bereich Wirtschaftspolitik des Ver.di-Bundesvorstands, ist Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Hochschule Aachen und sachverständiges Mitglied der Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages.
--
MATTHIAS SCHMELZER, 29, ist Wirtschaftshistoriker und promoviert derzeit zum Wachstumsparadigma und zur OECD. Er ist aktiv bei Attac und gehörte 2009/10 dem bundesweiten Koordinierungskreis an. Er ist Mitautor des Buchs "Postwachstum - Krise, ökologische Grenzen, soziale Rechte" (2011, Hamburg).
Norbert Reuter: Wir müssen weg vom Starren auf das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und hin zu qualitativen Beschreibungen: Welche Entwicklung wollen wir, welche nicht? Wir brauchen den ökologischen Umbau, eine andere, grüne, mehr mitbestimmte Produktion, wir müssen an den demografischen Wandel denken - also mehr Pfleger, mehr Bildung, mehr Kitas, kurz: mehr soziale Dienstleistungen. Gegen ein solches Wachstum hat doch niemand etwas.
Schmelzer: Sie legen den Fokus darauf, was in Zukunft alles wachsen soll. Es wird aber nicht reichen, das Wachstum in den sozialen Dienstleistungssektor zu verlegen. Wir müssen gleichzeitig eine dramatische Schrumpfung in ökologisch schädlichen Bereichen erreichen. Wir nennen das selektives Schrumpfen. Unterm Strich wird es zu einem Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts kommen, weil Wachstum ohne weiteren Ressourcenverbrauch und ohne Umweltverschmutzung nicht möglich ist.
Weil der ressourcenintensive Bereich ein zu großer Teil unserer Wirtschaft ist?
Schmelzer: Öl zum Beispiel ist in ungefähr 80 Prozent aller industriell gefertigten Produkte enthalten oder für ihren Produktionsprozess notwendig. Es ist daher sehr fraglich, ob wir unsere CO2-Reduktionssziele - 95 Prozent für die Industrieländer bis 2050 - ohne eine Schrumpfung sehr großer Produktionsbereiche und damit auch der Gesamtwirtschaft erreichen können .
Reuter: Einspruch! Man muss erst mal Schritte definieren, wie man von A nach B gelangen will. Das kann nicht ein Schrumpfen von heute auf morgen sein, sondern kann nur evolutionär funktionieren. Ein Auto, das mit Tempo 100 rast, kann nicht auf einmal mit Vollgas in die entgegengesetzte Richtung fahren, sondern muss erst abbremsen. Und es gibt bei uns auch viele Bereiche, die noch dringend wachsen müssen, vor allem Bildung und Soziales. Dafür kann woanders tatsächlich etwas schrumpfen. Ein solcher Strukturwandel, bei dem einzelne Bereiche wegbrechen und andere dazukommen, passiert laufend. Entscheidend ist, diesen Wandel zu gestalten.
Schmelzer: Bisher schrumpft aber nur, was sich nicht mehr rentiert. Wir müssen dahin kommen, dass schrumpft, was wir nicht mehr wollen.
Reuter: D'accord. Aber wenn wir einen ökologischen Umbau hinbekommen wollen, brauchen wir zunächst zusätzliche Arbeitskräfte, beim Umstieg auf nachhaltige Energie oder bei der Gebäudedämmung etc. Bei der Bruttoinlandsproduktberechnung stellt sich das alles als Wachstum dar. Aber solange es ein Wachstum ist, das darauf gerichtet ist, den Umweltverbrauch zu verringern, kann man eigentlich nichts dagegen haben.
Schmelzer: Dieses gute Wachstum ist doch eine Illusion! Solange es Wachstum gibt, gibt es auch mehr Ressourcenverbrauch oder jedenfalls nicht die nötige Verminderung. Mir kommt die Forderung nach qualitativem Wachstum wie ein Schleier vor, der verdeckt, dass es ungefähr so weitergehen soll wie bisher.
Reuter: Ich stimme Ihnen zu, dass wir eine ganz andere, extrem ressourcenschonende Art der Produktion erreichen müssen und wir dann vielleicht wirklich nicht mehr wachsen - jedenfalls nicht nach der herkömmlichen Berechnungsweise des Bruttoinlandsprodukts. Ich muss aber erst einmal etwas machen, um dahinzukommen. Etwas machen bedeutet, ökonomisch gesprochen, immer, dass zusätzliche Arbeiten getan werden müssen. Und die schlagen sich zunächst in einem höheren Bruttoinlandsprodukt nieder.
Damit wären wir bei der Frage, wie der Umbau erreicht werden soll - und zwar so, dass es in den schrumpfenden Sektoren nicht zu einer Massenarbeitslosigkeit kommt.
Schmelzer: Arbeitsplätze sind wichtig. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Aber selbst in einer Volkswirtschaft wie der unsrigen reicht das vorhandene Wachstum kaum aus, um die Produktivitätssteigerungen auszugleichen und Menschen in Arbeit zu bringen. In einer schrumpfenden Ökonomie wäre das noch viel problematischer, und deshalb sind andere Instrumente unumgänglich wie eine drastische Arbeitszeitverkürzung.
Reuter: Es wird eine Übergangsphase geben - wir leben ja schließlich in einer Demokratie, wir müssen die Menschen mitnehmen. In dieser Zeit müssen wir mit ganz massiven Anreizen für ein qualitatives Wachstum und für den ökologischen Umbau sorgen. Dazu gehört auch ökologische Aufklärung gewissermaßen hoch drei. Und selbstverständlich Arbeitszeitverkürzung. Wohlstand besteht schließlich nicht nur aus materiellem Wohlstand, sondern auch aus Zeitwohlstand.
Als Gewerkschafter fordern Sie vollen Lohnausgleich. Aber wie soll der finanziert werden? Denn die bisherige Gewerkschaftslogik - höhere Löhne sorgen für höhere Nachfrage mit dem ganzen daraus folgenden Wachstumskreislauf - will man ja gerade nicht mehr.
Reuter: Solange wir noch Produktivitätsgewinne haben, müssen wir diese an die Beschäftigten weitergeben. Als Arbeitszeitverkürzung, als Lohnsteigerung oder - am besten - als Kombination von beidem. Dann gibt es noch die Möglichkeit staatlicher Anreize - Vorbild Kurzarbeit, bei der die Einkommensverluste teilweise vom Staat kompensiert wurden.
Kurzarbeit?
Ja. Viele Leute waren übrigens gar nicht so froh, als die Kurzarbeit endete. Sie hatten erfahren, dass mehr freie Zeit auch mehr Wohlstand bedeutet. Aber natürlich sind wir hier in Deutschland auf einem extrem hohen Wohlstandsniveau, und da müssen wir auch die Verteilungsfrage stellen. Das ist der springende Punkt in einer Gesellschaft, die immer weniger wächst. Wir müssen einen Teil der bisherigen hohen Gewinne umlenken zu den Beschäftigten.
Schmelzer: Richtig, ökologische Fragen sind immer auch Klassenfragen. Mit Anreizen wird es aber nicht getan sein, denn die Entwicklung, die wir brauchen, steht den Interessen des Kapitals entgegen. Beispiel Kohlekraftwerke: Wir können nicht warten, bis die sich in 40 Jahren amortisiert haben, sondern müssen sie abstellen. Das sind neue und extreme Auseinandersetzungen, die da auf uns zukommen.
Und das heißt?
Wir brauchen einen dezentralisierten, demokratisch kontrollierten Energiesektor in öffentlicher Hand, und dafür müssen wir die Eigentumsfrage stellen. Das wäre übrigens ein gutes Einstiegsprojekt in eine Postwachstumsökonomie, denn ein solcher Energiesektor würde nicht den derzeitigen Wachstumszwängen unterliegen. Statt ein Mehr an Rendite könnte dann ein Weniger an Energieverbrauch das unternehmerische Ziel sein.
Bei den Kraftwerken wissen Sie bestimmt große Teile der Bevölkerung hinter sich. Aber wie sieht es aus, wenn von Verzicht des Einzelnen die Rede ist, aufs Auto etwa? Die Reichen finden immer einen Weg. Die nicht so Reichen beißen die Hunde.
Reuter: Den dafür nötigen Wertewandel hinzubekommen, zum Beispiel den Verzicht aufs Auto oder das allerneuste iPhone, ist eine wichtige, aber schwere Aufgabe. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, so etwas einfach zu verbieten. Wir müssen vielmehr politische Vorgaben machen, etwa in Bezug auf konsequentes Wiederverwerten. Und wir müssen den Menschen bessere Angebote machen, sodass sie beispielsweise den öffentlichen Verkehr nicht als Verzicht, sondern als Bereicherung empfinden.
Schmelzer: Die notwendige Transformation birgt zweifellos soziale Widersprüche in sich. Es ist wichtig, diese Widersprüche anzuerkennen und mit ihnen konstruktiv umzugehen. Es gibt eben klare ökologische Notwendigkeiten, vom Wachstum runterzukommen, aber zugleich auch Strukturen, in denen jeder vom Wachstum abhängig ist, zum Beispiel in Hinblick auf seinen Arbeitsplatz oder seine Mobilität.
Und wie wollen Sie das erreichen?
Wer das auf der individuellen Ebene zu ändern versucht, merkt schnell, dass die gesellschaftliche Teilhabe darunter leidet. Wir müssen auf der gesellschaftlichen Ebene ansetzen, damit nicht eine zunehmende Zahl von Menschen von Mobilität ausgeschlossen ist, sondern dass durch den Ausbau von öffentlichem und bezahlbarem Schienen- und Nahverkehr alle ohne Auto mobil sein können.
Der attac-Kongress "Jenseits des Wachstums" (20.-22. Mai 2011) beginnt heute um 15 Uhr in der TU Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene