Streit um Langstreckenblitzer: Die Polizei macht weiter
Niedersachsens Datenschutzbeauftragte fordert vergeblich, dass der Einsatz von Langstreckenblitzern auf der B6 gestoppt wird.
Das niedersächsische Innenministerium testet seit Mitte Januar auf der Strecke zwischen Gleidingen und Laatzen auf 2,2 Kilometern eine neue Art der Geschwindigkeitsmessung. Das Land hat sich dieses Projekt bisher 450.000 Euro kosten lassen.
Section Control soll eine Alternative zum klassischen Blitzer sein. Das Konzept funktioniert so: Am Anfang der Strecke fotografieren Kameras die Nummernschilder am Heck der vorbeifahrenden Autos. Zudem werden die Fahrtrichtung, die Zeit und der Ort erfasst. Die Daten werden vorübergehend verschlüsselt gespeichert. Am Ende der Strecke fotografiert die Anlage erneut das Kennzeichen und berechnet die Durchschnittsgeschwindigkeit. Wenn die Fahrer*innen zu schnell unterwegs waren, löst einer der Blitzer am Ende der Strecke aus. Die Daten werden übermittelt, die Anzeige folgt. Bis Mittwoch wurden 31 Autos geblitzt.
Die Daten der Fahrer*innen, die sich an die Regeln halten, werden gelöscht. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2008 entschieden, dass es keinen Grundrechtseingriff darstellt, wenn die Polizei die Daten bei sogenannten Nichttreffern sofort wieder spurenlos löscht. Doch am Dienstag veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht ein neues Urteil, indem es seine Haltung ändert (siehe Kasten).
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die automatisierte Erfassung von Kennzeichen einen Verstoß gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt – auch wenn die Kontrolle nicht zu einem Treffer führt und die Daten sofort wieder gelöscht werden. Damit hat es ein Urteil von 2008 revidiert.
Konkret ging es um das bayerische Polizeigesetz. In Bayern gibt es 22 stationäre Anlagen, die Nummernschilder scannen und die Informationen mit Fahndungsdateien abgleichen.
Das Gesetz muss jetzt nachgebessert und die Eingriffsschwelle erhöht werden, damit klar ist, in welchen Fällen der Abgleich zulässig und verhältnismäßig ist.
In der Begründung des Gerichts heißt es, Bürger*innen müssten sich „fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein“.
Die Grundlage für den Pilotbetrieb sei damit weggefallen, sagt Christoph Lahmann, der Stellvertreter der Landesdatenschutzbeauftragten. „Der Gesetzgeber muss nun eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für Section Control schaffen.“ Ohne solche Bestimmungen halten die Datenschützer*innen die Tempomessung für einen Grundrechtseingriff.
Aber das Innenministerium denkt nicht daran, das Pilotprojekt auf Eis zu legen, bis das neue Polizeigesetz in Niedersachsen durch das Parlament gegangen ist. Dort ist bereits ein Paragraf vorgesehen, der Section Control auch aus Sicht der Datenschützer*innen legitimieren würde.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts habe „keine Auswirkungen“ auf den Pilotversuch, sagt Simone Schelk, die Sprecherin des Innenministeriums. Zwar sei es unstreitig, dass für die längerfristige Nutzung eine spezielle Rechtsgrundlage notwendig sei, für das Projekt beziehe sich das Ministerium aber auf die polizeiliche Generalklausel, die besagt, dass die Polizei notwendige Maßnahmen treffen kann, um eine Gefahr abzuwehren.
Bei Section Control erfolge kein Abgleich mit anderen Datenbanken, sagt Schelk. Es diene ausschließlich der Geschwindigkeitsmessung. „Der Zweck der Datenverarbeitung ist damit klar definiert.“ Section Control komme nur dort zum Einsatz, wo eine erhebliche Unfallgefahr bestehe – so wie auf der B 6. Auf der Strecke zwischen Sarstedt und Hannover starben zwischen 2011 und 2014 drei Menschen, insgesamt gab es 32 Unfälle. Seit der Bauphase der Anlage und sogar seit Bekanntwerden der Planungen habe sich die Unfallzahl verringert, sagt Schelk. Zwischen 2015 und 2018 starb hier ein Mensch und es gab 17 Unfälle.
Das Ministerium sieht viele Vorteile gegenüber einem stationären Blitzer, vor dem Fahrer*innen oft plötzlich abbremsten. Die Methode führe zu einer spürbaren Harmonisierung des Verkehrsflusses. Und dass das Tempo über einen längeren Zeitraum gemessen werde, sei, so sagt es Innenminister Boris Pistorius (SPD), „auch einfach gerechter“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen