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Streit um Konzept VorschuleMehr Kita wagen

Im Jahr vor der Schule sind Kinder oft neugierig auf andere Themen. Eine Hamburger Kita hat dafür ein Modell geschaffen. Ein Forscher ist skeptisch.

Da gibt es was zu tuscheln: Einschulungsfeier in Berlin im Jahr 2019 Foto: Florian Boillot

Hamburg taz | Die Lernwerkstatt ist noch menschenleer. Alle Stempel ruhen an ihrem Platz, der Kopf des Plastikskeletts ist auf die Brust gesunken, und in der Sitzecke liegt kein einziges Buch. Alle 30 Lernfüchse sind ausgeflogen. Die Herbstsonne strahlt verlockend auf das Außengelände der Hamburger Elbkinder-Kita in der Emilienstraße. Lernfüchse, so nennt die Kita alle Kinder in ihrem letzten Kita-Jahr. Sie sind leicht zu erkennen, die Großen, die auf dem Sprung in die Grundschule sind, auch dank ihrer eigenen T-Shirts.

„Die Lernfüchse bleiben weiterhin Teil ihrer Gruppen, essen und spielen mit den Jüngeren. Zusätzlich haben wir für sie ein Jahresprogramm, größere Ausflüge und wöchentliche Aktivitäten in der Lernwerkstatt oder dem Atelier“, erklärt Ana Petrobella. Die Erzieherin ist für die Vorschularbeit mitverantwortlich. Dabei gehe es nur bedingt um eine Vorbereitung auf den Schulstart. Vielmehr stellen die älteren Kinder einfach komplexere Fragen und benötigen anderen Input.

„Schulvorbereitung“, dieses Wort ist unter pädagogischen Fachkräften verpönt. Es klingt zu sehr nach Namen schreiben, ein bisschen Kopfrechnen, Stillsitzen üben und Schleife binden – „Fähigkeiten“, die mutmaßlich zum Schulstart erwartet werden, jedenfalls sehen das viele Eltern so und erinnern sich dabei an ihre eigene Vorschulzeit in den 80er und 90er Jahren.

Heute herrscht in der Frühkindlichen Bildung Konsens darüber, dass die Kita als eigenständige Bildungsinstitution für die frühe Kindheit nicht vorrangig auf die Schule vorbereiten soll. Neben Themen wie Sprachförderung oder vorschulischen Berührpunkten mit Zahlen oder naturwissenschaftlichen Alltagsphänomen steht die Persönlichkeitsentwicklung viel stärker im Vordergrund. Und diese Bildungsansprüche sind keineswegs auf das letzte Jahr beschränkt, sondern beginnt im Prinzip ab dem ersten Tag in der Krippe.

Keine festen Lehrpläne

Die meisten Bundesländer haben die speziellen Vorschulklassen, oft in Grundschulen integriert, zugunsten größerer Freiheit in der Vorschularbeit abgeschafft. Lehrpläne wie in der Schule gibt es nicht; stattdessen gelten Bildungsempfehlungen für Kitas. Sie sehen zum Beispiel „positive Erfahrungen der Kinder rund um Buch-, Erzähl- und Schriftkultur“ vor.

Nur ein verpflichtendes letztes Kita-Jahr wird gelegentlich diskutiert, um etwa Sprachdefizite auszugleichen – soweit das in einem Jahr möglich ist. Auch in Hamburg können Familien zu einem Besuch einer Kita oder einer Vorschule verpflichtet werden, sofern sprachlicher Förderbedarf bei den Schuleingangsuntersuchungen mit 4,5 Jahren festgestellt wird. Baden-Württemberg will diesem Beispiel folgen und Vorbereitungsklassen für Kinder mit Sprachdefiziten schaffen. Ob sich diese innerhalb eines Jahres ausgleichen lassen, ist in der Fachwelt umstritten.

Abgesehen von dringlichem Förderbedarf herrscht bei der Ausgestaltung des letzten Kita-Jahres große Freiheit. Viele Kitas bieten vor allem besondere Aktivitäten für die Älteren: Ausflüge zur Feuerwehr, ins Rathaus oder Museum, Verkehrserziehung für den Schulweg und Besuche in der örtlichen Grundschule, um die zukünftigen Lehrkräfte kennenzulernen.

Eher Elternwunsch als ­pädagogisch sinnvoll

Das reicht völlig, meint Hans-Günther Roßbach, Erziehungswissenschaftler an der Uni Bamberg: „Wissenschaftlich gibt es keinen Grund, das letzte Kita-Jahr besonders zu betonen. Sprach- und Mathematikförderung beginnen ab dem ersten Tag in der Krippe, nicht erst kurz vor der Schule.“

Zudem existieren keine Vorgaben, welche Fähigkeiten Kinder zur Einschulung mitbringen müssen. Grundschullehrer erwarten nicht, dass Kinder ihren Namen schreiben, im Zehnerraum rechnen oder den Stift perfekt halten. Viel wichtiger erscheinen ein Mindestmaß an Sozialkompetenzen oder die Fähigkeiten, sich zu konzentrieren. Fehlen diese Kompetenzen, stellt das die Lehrkräfte vor viel größere Herausforderungen als eine offene Schleife. Oft sind es eher die Eltern, die sich im letzten Kita-Jahr eine schulähnliche Förderung wünschen, sagt Roßbach. Auch Kita-Leiterin Susanne Schellin bemerkt im Alltag die Ambitionen der Eltern. Kein Wunder: Die Elbkinder-Kita liegt in einem zunehmend von Akademikern geprägten Viertel der Hansestadt.

„Es ist verständlich, die Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder. Dieser Anspruch vermischt sich oft mit den nicht immer positiven Erinnerungen an die eigene Schulzeit.“ Um sie von Anfang an einzubeziehen, gibt es Elternabende und ein Faltblatt zum Jahresprogramm. Das wirkt pädagogisch ambitioniert: Thea­terworkshops, Projektwochen zum Garten, wöchentlich Early Englisch und Musik, ein Ausflug ins Rathaus zur direkten Demokratie-Erfahrung.

Die Kinder schreiben Briefe an ihre zukünftigen Klassenlehrer. Im Atelier lernen sie Künstler kennen und verbringen Zeit in der Lernwerkstatt. „Wir spielen hier nicht Schule. Die Kinder haben alle Freiheiten, im Atelier und in den Lernwerkstätten suchen sie selbst nach ihren Themen“, sagt Petrobella. Vielmehr geht es darum, den kindlichen Wissensdurst zu stillen, neue Perspektiven zu eröffnen und die Selbstwirksamkeit im Lernen zu erleben.

Keine Fächer für die Kita

In der Lernwerkstatt mit Leseecke zeigt sie, wie alles um Sprache, Schrift und Buchstaben kreist. Dort finden sich Buchstabenstempel, eine Tafel mit Abc-Magneten, eine alte Schreibmaschine, zahlreiche Kinder­bücher, eine Schreibstation mit Stiften und Papier, eine kleine Poststation und ein Schrank, dessen Schubladen nach Anfangsbuchstaben sortiert sind. „Spätestens im Vorschulalter interessieren sich Kinder brennend für Buchstaben. In diesem Raum sammeln sie eigene Erfahrungen mit Schrift, individuell und selbstständig“, erklärt die Erzieherin. Es gibt keine festen Vorgaben oder Aufgaben.

Zu Beginn der Werkstattzeit teilt jedes Kind der Gruppe mit, was es heute tun möchte, und folgt dann seinen Interessen – allein oder mit anderen Lernfüchsen. Petrobella gibt vor allem Anregungen und manchmal auch Hilfestellungen. Dass dabei Wörter geschrieben oder die richtige Stifthaltung geübt wird, sieht sie als positiven Nebeneffekt. Ähnlich gestaltet sich der Forscherraum. Dort stehen ein Mikroskop, Stein- und Fossiliensammlungen, Plastik­organe, Holzformen, Würfel und ein Kaufmannsladen mit Geldscheinen – und als besonderes Highlight ein kleines, aber voll funktionstüchtiges Bügeleisen.

„Wir verknüpfen jeden Kompetenzerwerb mit den Interessen der Kinder. Am Ende erhält jedes Kind hoffentlich den Input, den es braucht und wünscht, integriert in den Alltag“, erklärt Schellin.

Der elterliche Wunsch nach mehr Schulvorbereitung im letzten Kita-Jahr übersieht noch etwas Wesentliches. „Schon ab der Krippe ist die Kita ein sozia­ler Lernraum, der wichtige soziale Kompetenzen fördert“, erklärt Erziehungswissenschaftler Roßbach. In der Gruppe mit jüngeren und älteren Spielkameraden lernen Kinder, Grenzen zu akzeptieren und zu setzen, Verantwortung zu übernehmen und Konflikte zu lösen.

Wenn sie regelmäßig die Chance erhalten, sich auszuprobieren, Selbstwirksamkeit zu erfahren und ihren Interessen nachzugehen, entwickeln sich Ausdauer, Konzentration und Frustrationstoleranz von selbst. So werden Kinder in der Kita-Zeit zu gestärkten Persönlichkeiten, die resilient genug sind, um die vielen Veränderungen des Schulstarts zu meistern – neue Bezugspersonen, neue Kinder, ein neuer Alltag.

So weit jedenfalls die Theorie: Denn für diese Bildungsziele für Kindertagesstätten braucht es Personal, das nicht dauerhaft am Rande des Burn-outs arbeitet und genug Kita-Plätze, gerade für Kinder, die eine Sprachförderung und sozio-emotionale Unterstützung außerhalb des Elternhauses dringend nötig haben. Leider ist genau das eher Utopie als Realität – vielleicht auch, weil die Kita als eigenständige­ Bildungsinstitution noch nicht genug wahrgenommen wird.

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