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Streit um Gräber aus der NazizeitDie Stadt, die Bahn und der Tod

Ar­chäo­lo­g*in­nen haben in Bremen Skelette sowjetischer Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen entdeckt – genau dort, wo eine Bahnwerkstatt entstehen soll.

Ausgrabungsstätte in in Bremen-Oslebshausen: Gerade wurden hier noch Skelette gefunden Foto: Kay Michalak/Fotoetage

Bremen taz | In einer menschengroßen Grube hockt eine junge Frau und befreit behutsam einen skelettierten Arm von Erde. Das Grab ist eines von ganz vielen auf der Reitbrake im Bremer Stadtteil Oslebshausen. Die Brache, ein gedrungenes Tal zwischen Bahnschienen und Industrieanlagen, ist von aufgeschütteten Erdhügeln und herumstehenden Güterwaggons gezeichnet. Der Nieselregen hat all das mit großen, schlammigen Pfützen bedeckt, zwischen denen weiße Zelte stehen. In der Nazizeit war hier ein Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene.

Wer bis zu der Ausgrabungsstätte vordringt, kommt an einem Mahnmal vorbei: ein russisch-orthodoxes Kreuz mit einer Infotafel zur Geschichte dieses Ortes. Die hier beerdigten Kriegsgefangenen starben in einem nahegelegenen nationalsozialistischen Lager, ermordet durch Zwangsarbeit. Auf der Tafel ist von 1.000 Toten die Rede, die Bremer Landesarchäologin Uta Halle vermutet, dass es 446 waren.

Sie ist damit betraut, hier nach sterblichen Überresten zu suchen. Zwar sollten alle Opfer schon 1948 umgebettet worden sein. Gemeinsame Recherchen des Bremer Friedensforums und der Bürgerinitiative „Oslebshausen und umzu“ stellten das aber in Frage: Ein Oslebshauser Polizist schrieb 1946 in einem Bericht von 742 Gräbern – zwei mit Namen, 280 mit Nummern und 460 ohne nähere Informationen. Die Zahlen fanden sich jüngst in einem Archiv zu Opfern und Überlebenden des NS-Regimes in Bad Arolsen. Doch auf dem Friedhof in Bremen-Osterholz, wo es einen Ehrenhain für die Opfer des Nationalsozialismus gibt, werden nur 446 unbekannte Leichname aufgeführt. Wo sind die anderen fast 300 Kriegstoten?

Die Reitbrake ist schon seit jener Exhumierung kurz nach Kriegsende keine völkerrechtlich geschützte Kriegsgräberstätte mehr. Das aber könnte sich ändern, falls hier noch immer sterbliche Überreste liegen. Sie könnten zugleich die Pläne des rot-grün-roten Bremer Senats vereiteln, auf dem sogenannten Russenfriedhof eine Bahnwerkstatt des französischen Konzerns Alstom anzusiedeln.

Politik ist gespalten

Die geplante Ansiedlung sorgt auch innerhalb der Landesregierung für heftigen Streit – die mitregierende Linke ist landesweit, die SPD zumindest vor Ort gegen die Bahnwerkstatt. Hier sollen neue Doppelstockzüge gewartet werden, mit denen Bremen und Bremerhaven ab 2024 besser mit dem Nordwesten verbunden werden. Rund 100 neue Jobs erhofft sich Bremen davon. Die Bürgerinitiative kämpft vehement dagegen, dass die Bahnwerkstatt in ihren Stadtteil kommt. Sprecher Dieter Winge nennt deren Nachteile „abendfüllend“.

Die emotional geführte Auseinandersetzung ist politisch von hoher Symbolkraft. Es geht um die Spaltung zwischen armen und reichen Stadtteilen, um alte Arbeiterquartiere und urbane, linksgrüne Milieus, um die Glaubwürdigkeit der Politik überhaupt. Oslebshausen, tief im Westen der Stadt, wo einst viele Werften waren, ist heute von Lärm, Verkehr, Müll und Industrie besonders belastet. Der rot-grün-rote Koalitionsvertrag hat dem Stadtteil deshalb versprochen, dass er genau davon „entlastet wird“. Passiert ist das Gegenteil: Hier wird gerade eine Klärschlammverbrennungsanlage gebaut, gleich neben einem Wohngebiet.

Nun aber haben die Landesarchäologen gleich acht vollständige Skelette ausgegraben, nur wenige Tagen nach dem ersten Nachweis eines nicht exhumierten Leichnams. Für die Bürgerinitiative und das Friedensforum ist klar: Hier kann keine Industrie mehr hin. Stattdessen soll eine Expertenkommission aus Historiker*innen, Völkerrechtler*innen, Ethi­ke­r*in­nen und Op­fer­ver­tre­te­r*in­nen eingesetzt und das ganze Gelände intensiv nach weiteren Opfern und deren Spuren untersucht werden. Und statt der Bahnwerkstatt soll eine Gedenkstätte hier entstehen.

Landesarchäologin Uta Halle hatte zunächst nur vereinzelte Knochen gefunden – Kniescheiben, Finger, Brustkörbe, einen Schädel. Und auch jenen Arm, der bis heute noch halb begraben ist. Selbst das war für sie schon eine Überraschung. Halle sieht die Ausgrabung in Oslebshausen als „Präzedenzfall“. Trotzdem ist sie nicht unbedingt für eine neue Gedenkstätte in Oslebshausen – sie verweist auf die bestehende Gedenkstätte, in Osterholz, am anderen Ende der Stadt.

In dem Grabungszelt der Archäologen auf der Reitbrake hat ein Bagger einen Gang aufgeschüttet, links davon reihen sich markierte Gräber aneinander, erkennbar an unförmigen dunklen Verfärbungen. Auf einem Tisch liegen Knochen, dazu eine Erkennungsmarke. Sie sind die einzige Möglichkeit, die Knochen zu identifizieren, sagt Halle. Sie will den Verstorbenen ihre Identität zurückgeben. Die Bahnwerkstatt ist nicht ihr Thema.

Rechts des Ganges liegen Planen, dort soll der Bagger noch 1,20 Meter Erde ausheben. Anstelle einzelner Gräber soll hier ein langer Leichengraben liegen. Darin wurden 1941 Typhus-Tote notdürftig verscharrt. Für vereinzelte Knochenfunde hat Uta Halle dabei eine makabere Erklärung: Die Umbettung wurde in der Nachkriegszeit von einer Handvoll Gartenarbeiter erledigt, die dafür einen Liter Milch bekamen, Nahrung war ja noch knapp. Die Männer müssen abgefallene, halbverweste Körperteile mitunter einfach zurückgelassen haben.

Die fast 300 Toten, die die Bürgerinitiative und das Friedensforum hier vermuten, wurden bisher nicht gefunden. Halle vermutet, dass sich der Oslebshauser Polizist 1946 einfach geirrt oder seine Zahl eher geschätzt hat. Sozialpädagoge Winge nimmt an, dass die zunächst gefundenen Knochen zu Leichnamen gehören, die zur Desinfektion mit Löschkalk bestreut wurden, damit sie schneller verwesen.

Die Strategie des Bremer Senates in Sachen Bahnwerkstatt „führt in ein Fiasko“, sagt Winge. „Er ist kurz davor, die Reputation Bremens zu beschädigen.“ Er verweist auf ein Rechtsgutachten zum humanitären Völkerrecht. Darin heißt es, dass der Status als Kriegsgräberstätte nur aufgehoben sei, „wenn aufgrund vorheriger Umbettungen keine sterblichen Überreste mehr in einer Stätte aufzufinden sind“. Das aber stimmt ja nun nicht mehr.

Vorgaben des Kriegsgräberrechts

„Wie mit den Funden umzugehen ist, kann erst nach Abschluss der Grabungen in enger Abstimmung mit den Ver­tre­te­r*in­nen der betroffenen Staaten entschieden werden“, sagt Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD), ohne dabei ein Wort zur Bahnwerkstatt zu sagen. „Alleiniger Maßstab der Entscheidung ist die Gewährleistung eines würdevollen Gedenkens an die Toten unter Berücksichtigung der Vorgaben des Kriegsgräberrechts“, erklärt er stattdessen.

Uta Halle, die Bremer Landesarchäologin, versucht die gefundenen Knochen zu identifizieren Foto: Kay Michalak/Fotoetage

Auf einem unscharfen alten Luftbild des Russenfriedhofs zeigt Uta Halle auf dunkle und helle Flecken. Anhand derer wissen die Archäolog*innen, wo früher die Zaunpfosten gestanden haben müssen. Sie graben derzeit nur innerhalb des 3.500 Quadratmeter großen Kernfriedhofs, der vom Zaun umschlossen war.

Die Geg­ne­r*in­nen der Bahnwerkstatt wollen auch drumherum alles aufgraben lassen. Und die Reitbrake ist 20.000 Quadratmeter groß. Der neu aufgefundene Polizeibericht von 1946 bestätigt schließlich die Rechercheerkenntnisse, die Bürgerinitiative und Friedensforum mithilfe der Datenbank „Memorial“ gewannen. Winge vermutet, dass die fehlenden Leichname außerhalb des Kernfriedhofs liegen könnten. Davon gehe auch der Historiker Peter-Michael Meiners aus.

Was für Uta Halle und die SPD-Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz erst einmal eine „unvollständige Exhumierung“ ist, ist für Winge „ein völkerrechtlicher Skandal“. Zudem sei der Alstom-Konzern, der die Bahnwerkstatt bauen soll, die Rechtsnachfolgerin der Linke-Hofmann-Werke, einem „kriegsverbrecherischen Unternehmen“, das Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen beschäftigte und Vieh- sowie Güterwaggons produzierte – die heute zu einem Symbol der Shoah geworden sind.

Das von Winge ins Feld geführte Rechtsgutachten zeigt: Eine nachträgliche Umbettung ist immer noch denkbar. Das Völkerrecht verbietet Exhumierungen zwar. Der Staat, auf dessen Territorium die Gräber liegen, kann aber entscheiden, dass eine „zwingende öffentliche Notwendigkeit“ eine Umbettung erfordere, die dann mit den Heimatstaaten der Verstorbenen ausgehandelt werden muss.

Welche rechtlichen Folgen die jüngsten Skelettfunde haben, ist noch unklar. Auf dem Ausgrabungsgelände kippt ein Bagger derweil Erdmassen in ein Sieb. Der rüttelt die Erde durch, sein Lärm übertönt alle Erklärungen von Uta Halle. Das Sieb sei eng genug, um auch einen Fingerknochen einzufangen, sagt sie. Am Ende wartet eine junger Bundesfreiwilliger mit einem weiteren Sieb. „Ihm entgeht kein Knochen“, sagt Halle.

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