Streit um Barrierefreiheit in Hamburg: Der Rollstuhl soll raus
Veronika Radigk darf ihre Mobilitätshilfe nicht mehr in den Hausflur stellen. Das bedeute „Hausarrest für immer“, sagt die schwerbehinderte Frau.
Hinter der Schwingtür beginnt das Treppenhaus. Radigk geht Stufe für Stufe, hält sich am Geländer fest, bis in den zweiten Stock. „Die Treppe schaffe ich“, sagt sie. Aber draußen mache sie ohne den Rollstuhl nach zehn Metern schlapp. Sie leidet an Skoliose und Muskelschwäche, hatte schon über 20 Knochenbrüche – das ist die Folge der starken Medikation eines schweren Asthmas in der Jugend. Seit fünf Jahren stellt die Kasse Radigk deshalb einen Elektrorollstuhl. Damit ist sie in ihrem Stadtteil mobil, fährt zum Arzt, zum Optiker, zur Sparkasse, zum Supermarkt. Aber nun soll der Rollstuhl weg aus dem Flur. Aus Brandschutzgründen.
Radigks Wohnzimmer ist mit einem Kronleuchter, antiken Tapeten und Möbeln liebevoll dekoriert. Die kleine Altbauwohnung erinnert fast an ein Museum. Auf den Couchtisch hievt Radigk einen Aktenordner, bevor sie sich davor in ihren Ohrensessel setzt. Seit Monaten kämpft die ehemalige Hort-Erzieherin mit den Behörden um ihren Rollstuhl. „Ich will hier nicht weg. Ich habe hier meine sozialen Kontakte“, sagt sie. Doch bisher sieht es nicht so aus, als ob die Behörden ihr in der Frage, ob sie den Rollstuhl weiter im Flur lagern darf, entgegenkommen. Doch diese Frage ist für Radigk existenziell.
24 Jahre schon lebt sie in diesen zweieinhalb Zimmern. „Ich habe das Gefühl, ich habe mir hier jeden Zentimeter erwohnt.“ Nun drohe ihr „Hausarrest für immer“. Eher bleibe sie nur noch drinnen als auszuziehen.
Beschwerde einer Nachbarin
Die Entscheidung steht kurz bevor: Wenn bald der Eingabenausschuss des Parlaments über ihre Petition in der Sache entscheidet, entscheidet in der Folge auch der Bezirk Hamburg-Mitte über ihren Widerspruch. Und damit endet ein Beschluss des Amtsgerichts, den Radigk im März erwirkt hatte, damit ihr Vermieter nicht das Abstellen des Stuhls im Flur untersagt.
Auslöser war die Beschwerde einer Nachbarin, die längst ausgezogen ist: Die klagte beim beim Bauamt, dass im Flur Sachen herumstünden: Kinderwagen, Fahrräder und, eben, ein Rollstuhl. Das Amt sah den Brandschutz gefährdet, die anderen Gegenstände wurden entfernt. Am 5. März erteilte das Bezirksamt Mitte den Eigentümern dann eine Anordnung. Sie sollten auch den Rollstuhl entfernen oder so stellen, dass der Brandschutz gewährleistet ist. Und Radigk sollte das dulden.
Die Argumente sind zu lesen in der Stellungnahme von Bezirksamtsleiter Falko Droßmann, die der taz vorliegt. Insbesondere sei gefährlich, dass der Rollstuhl im Hausflur über eine Steckdose geladen wird. Man verstehe die Nöte der gehandycapten Bewohnerin, müsse aber auf die Brandgefahr eines akkubetriebenen Gefährts hinweisen. Der Hausflur sei „erster Rettungsweg“. Es sei abzuwägen, dass im Brandfall eine Vielzahl von Bewohnern unnötig in Gefahr gebracht werden. So sei es im Schanzenviertel nach einem Treppenhausbrand, der durch die Aufladung eines Rollers entstand, zu Verletzten gekommen.
Schon im Vorweg der Anordnung wurden zwischen Ämtern und Hausverwaltung Lösungen erörtert. Die Feuerwehr schlug eine feuerfeste Kiste vor, doch dafür reicht der Platz im Flur nicht. Ursprünglich hatte Frau Radigk 2018 die Erlaubnis für eine Rollstuhlgarage auf dem Fußweg vor dem Haus. Doch deren Bau wäre mit 7.000 Euro nicht nur teuer und bürokratisch aufwendig, erinnert sich Radigk: „Ich sollte auch für Kampfmittelräumdienst zahlen und immer alle Graffitis entfernen.“ Da habe sie es gelassen. Heute sei zudem ihr Gesundheitszustand so, dass sie nicht lange genug stehen könne, um das Gefährt aus so einer Garage zu holen.
Ihr Vorschlag war, eine feuerfeste Husse über den Rollstuhl zu legen. Außerdem hatte Radigk schon bei der Anschaffung darauf geachtet, ein Gefährt mit „Gel-Akkus“ zu nehmen. Die gelten, anders als die in vielen E-Rollern verbauten Lithium-Ionen-Akkus, als sicherer. Das kam auch bei dem Prozess um einen vergleichbaren Fall 2017 vor dem Amtsgericht Kassel zur Sprache. „Eine Brandgefahr geht von richtig gewarteten Elektrorollstühlen nicht aus“, sagte damals ein Sprecher der Herstellerfirma von Radigks Rollstuhl der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen. Es handle sich um Medizinprodukte mit „höchsten Sicherheitsstandards“.
Auch Radigk telefonierte mit Experten über „Gel-Akkus“, gab ihre Recherchen an Bezirk und Parlament weiter. Sie sagt, von Behörden erhielt sie kaum Hilfe, eine Stelle habe gesagt, sie solle ins Pflegeheim. „Da war ich bedient.“
Persönlich zu ihr kam nur die Feuerwehr. „Die waren positiv überrascht, dass ich diesen Gel-Akku habe.“ Außerdem stellten die Beamten fest, dass der Stuhl den Fluchtweg nur geringfügig verstellt. Radigk schöpfte Hoffnung. Doch für den Bezirk gilt der Stuhl weiter als Gefahr, er sei selber „Brandlast“.
Anfang Mai sammelten Nachbarn Unterschriften. Alle Mieter schrieben dem Eingabenausschuss, sie fühlten sich in keiner Weise durch den Rollstuhl gestört und fürchteten auch nicht, dass sie bei einem Brand nicht fliehen könnten. Selbst wenn es im Hausflur brennen sollte, könnte noch über den Keller ausgewichen werden, der Ausgänge ins Freie hat.
„Guter Wille“ ist da
Aber die Sache ist vertrackt. Die Feuerwehr verweist die taz auf einen tragischen Treppenhausbrand in 2014, bei dem eine Mutter mit ihren zwei Kindern starb. Von daher sei man bestrebt, sich für „möglichst sichere Rettungswege einzusetzen“. „Es fehlt hier nicht an gutem Willen“, sagt auch die Sprecherin des Bezirks, Sorina Weiland. Alle Beteiligten sähen die Notwendigkeit, dass der Rollstuhl in der Nähe der Wohnung steht. Deshalb würden weiter „Alternativen geprüft“.
Persönlich vermitteln in dem Fall würde Klaus Wicher, der Landesvorsitzende des Sozialverbands SoVD. Das Argument mit der Brandlast scheine ihm so stichhaltig nicht, sagt er. „Solange der Fluchtweg frei ist, sind unseres Wissens nach Rollstühle in Fluren erlaubt.“ Man brauche schnell eine Lösung, „damit die Frau weiter in ihrem Umfeld wohnen kann“.
Auf taz-Nachfrage ist auch die Senatskoordinatorin für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung bereit, bei der Lösung zu helfen. Und am Samstag sprach Radigk bei einem Wahlkampftermin den für den Bundestag kandidierenden Droßmann an; der Bezirksamtsleiter sicherte zu, bei der Rollstuhlfahrerin vorbeizukommen.
Radigk sagt, sie nehme das gerne an. „Ich hatte zuletzt das Gefühl, Hamburg will mich nicht mehr.“
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