Streit in der britischen Labour-Partei: Keine Festlegung zum Thema Brexit
Zahlreiche Labour-Ortsverbände fordern ein zweites Referendum. Die Parteispitze um Jeremy Corbyn will sich alle Optionen offen halten.
Corbyn erntete stürmischen Beifall für seine Versicherung, im Falle eines Labour-Wahlsiegs die britische Eisenbahn wieder zu verstaatlichen, das staatliche Gesundheitssystem wieder aufzupäppeln und eine klimafreundliche Wirtschaftspolitik zu betreiben. Gekonnt spielte er auf der Klaviatur internationalistischer Solidarität. Bei seiner Rede klammerte er aber ein Thema konsequent aus, obwohl es den seit Sonntag ebenfalls in Liverpool stattfindenden Labour-Parteitag von Anfang an beherrscht: Wie hält es die Partei mit dem Brexit?
Rund 140 Anträge von Labour-Ortsverbänden und Gewerkschaften zu dem Thema lagen der Parteitagsregie vor, überwiegend zugunsten einer neuerlichen Abstimmung der Briten über den EU-Austritt. Jeremy Corbyn hatte sich schon öffentlich in einem Interview mit dem Sunday Mirror geäußert, dass er eine wie auch immer geartete Entscheidung des Parteitags zu diesem Thema respektieren werde. Es galt nun aber, die Antragsmasse auf eine einzige Vorlage einzudampfen, über die am Dienstag abgestimmt werden soll.
Unter Führung des Brexit-Schattenministers Keir Starmer einigten sich am späten Sonntagabend ausgewählte Ortsverbandsmitglieder und Gewerkschaftsvertreter nach sechs Stunden Verhandlungen auf einen Wortlaut, den zahlreiche Kommentatoren als „fudge“ bezeichnen – eine weiche Zuckermasse. „Sollte es keine Neuwahlen zum Unterhaus geben, dann muss die Labour-Partei alle auf dem Tisch liegenden Optionen unterstützen, inklusive einer Kampagne für ein Referendum“, lautet jetzt der Kernsatz des Antrags, den die Delegierten billigen sollen und der ansonsten wortreiche Kritik an der Brexit-Strategie der Regierung enthält.
„Love Corbyn, Hate Brexit“
Letztlich heißt das, Labour sieht vorerst einfach weiter zu, wie die Tory-Regierung der Premierministerin Theresa May über den Brexit streitet. Nach dem Crash ihres sogenannten Chequers-Deals auf dem Salzburger EU-Gipfel vergangene Woche scheint es derzeit, als ob die Konservativen – die kommende Woche in Birmingham ihren Jahresparteitag abhalten – den Weg eines Freihandelsabkommens mit der EU nach dem Vorbild der Ceta-Übereinkunft mit Kanada anstreben könnten.
Klar scheint, dass ein solcher Deal, so die EU ihm überhaupt zustimmen würde, anschließend von Labour im Parlament abgeschmettert wird. Labour setzt darauf, dass dann Theresa May auch das Vertrauen in ihrer eigenen Partei verliert und es zu Neuwahlen kommt. In den Reihen Labours scheint man sich sicher zu sein, diese zu gewinnen und schließlich selbst am Verhandlungstisch in Brüssel zu sitzen. Auch Labour bleibt also mehr oder weniger auf dem Austrittspfad.
Die zahlreichen Delegierten, die gestern im Konferenzsaal T-Shirts mit der Aufschrift „Love Corbyn, Hate Brexit“ trugen, dürften nicht nur von der schwammigen Formulierung des Antrags enttäuscht sein, sondern mehr noch von dem, was die Labour-Parteispitze in Aussicht stellt, sollte es tatsächlich zu einem zweiten Referendum kommen.
Dann solle nämlich der Verbleib Großbritanniens in der EU keine Option auf dem Abstimmungszettel sein, erklärte Schatten-Finanzminister John McDonnell, ein Corbyn-Vertrauter, am Montag. Es werde nur über Ja oder Nein für den mit der EU ausgehandelten Brexit-Deal abgestimmt, und bei einem Nein würde es zurück an den Brüsseler Verhandlungstisch gehen.
Der Wind hat sich gedreht
Herrschte am Sonntagmittag unter den rund 5000 Teilnehmern der Demonstration der parteiübergreifenden Pro-EU-Kampagne „People’s Vote“ in Liverpool für ein zweites Referendum noch Optimismus, dass der Labour-Parteitag eine Wende in Richtung Exit aus dem Brexit einleiten könnte, hat sich der Wind somit gedreht.
Klar wurde das den Aktivisten insbesondere, als der mächtige Gewerkschaftsboss und Corbyn-Vertraute Len McCluskey öffentlich erklärte, dass es falsch wäre, bei einem neuerlichen Referendum den EU-Austritt wieder zur Disposition zu stellen. Dies könne die Labour-Wähler, die 2016 für „Leave“ gestimmt hatten, ins Lager der Konservativen treiben.
Es herrscht in den Labour-Reihen also weiterhin Angst davor, mit einem Politikwechsel die Brexit-Wähler in den nordenglischen Labour-Hochburgen gegen sich aufzubringen. Die Frage ist, ob die Delegierten des Parteitags am Dienstag dieser Angst nachgeben und den „fudge“ schlucken.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Gerichtsentscheidung zu Birkenstock
Streit um die Sandale